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Einsames Spiel

Ich lernte Mirela Ivanova im Oktober '98 kennen. Zerstreut, übernächtigt saß sie mir in einem Sofioter Cafe mit braunen, verschlissenen Sesseln gegenüber, deren enorm hohe Lehnen an Dromedarbuckel erinnerten. Massive Gipsblätter an der Decke ahmten eine Pop-Blume nach. Das sei das "moderne Cafe ihrer Jugend" gewesen, weihte nüch Ivanova ein. Dabei entging mir die Ironie ihrer Stimme ebensowenig wie der nostalgische Tonfall.

Jan Koneffke |
    Aber die Dichterin hatte zu dieser Zeit andere Sorgen. Gerade war im Wohnblock, wo sie mit Ehemann und Romancier Vladimir Zarev und Tochter Zornica, lebt, eine Bombe explodiert. Der als Killer angeheuerte Chemiestudent hatte es auf eine Frau im siebten Stock des Hauses abgesehen, aber die Bombe ging schon im Fahrstuhl hoch. In Ivanovas Wohnung barsten Türen und Fenster, und am anderen Tag, als sie Splitter und Scherben zusammenkehrte, entdeckte sie menschliche Fleischreste.

    Die Not in Bulgariens Hauptstadt ist mit Händen zu greifen. Alte Frauen verkaufen Sonnenblumenkerne, zu hunderten bieten Rentner ihre Hauswaage an, in der Hoffnung, jemand wolle sein Gewicht erfahren. Und immer wieder wird zur Gewalt gegriffen. Überflüssig gewordene junge Männer, die in kommunistischen Zeiten zu Leistungssportlern getrimmt werden sollten, tauchen an den Türen als Versicherungsvertreter auf und verprügeln die Kunden, wenn sie sich weigern, eine Versicherung abzuschließen.

    Als ich der Dichterin im Künstlerhaus Edenkoben wiederbegegne, wo sie die deutsche Auswahl aus fünf Gedichtbänden redigiert, frage ich sie, ob ihr die Gewalt in Bulgariens Gesellschaft nicht Angst mache. Ihre Antwort ist lakonisch:

    "Ich habe schon vor der Wende nur mit Ängsten gelebt. Und das möchte ich nie wieder. Ich möchte mit Ängsten nicht leben. Ich kann auch ohne Hoffnungen leben, aber mit Ängsten möchte ich nicht. "

    Mirela Ivanova ist die Tochter einer Zahnärztin und eines Neurologen. Mit medizinischen Fachgesprächen wurde das Kind nicht behelligt:

    "Meine Mutter hat mir so viele Gedichte vorgelesen, und nicht nur Kindergedichte. Die Gedichte von unseren großen Nationaldichtern, von Vasov, von Javorov, von Botev natürlich, und alles, was ich damals mit drei Jahren auswendig gelernt habe, weiß ich auch bisher. "

    Nicht im schmutzigen Sofia, sondern bei den Großeltern auf dem Land, wuchs die kleine Mirela auf:

    "Das war eine sehr wichtige Zeit für mich. Ich hab die ganze mögliche Freiheitfür mich. Es war sehr wild damals noch und sehr ruhig andererseits. Ich kann die ganze Zeit durch die Felder oder im Park rumlaufen, auf alle Bäume klettern und diese Horizonte irgendwie sehen und rufen, vielleicht...."

    Die frühe Bekanntschaft mit der poetischen Tradition und die Kindheitserfahrung der Schönheit und Weite einer noch intakten Natur prägen auch die Dichtung Ivanovas. Sie verhelfen ihr zu einem Sentiment, an dem sich das ironische Bewußtsein umso schärfer und unversöhnter bricht. Ironie ist bei Ivanova das Mittel, um den Verwerfungen der jüngsten Geschichte und Gegenwart ihren Gehalt zu entlocken. Und auch dann, wenn das lyrische Ich die zur Schwester gewordene Ironie auffordert, zu verschwinden, damit es sich den Erinnerungen hingeben kann, geschieht das selbstredend ironisch: "Sie alle stehn mir wie die Kleider/ die Tante Nfilka mir genäht hat."

    Mirela Ivanova besucht das deutschsprachige Gymnasium, weil der Vater die deutsche Kultur verehrt. Und in den neunziger Jahren wird sie zur Übersetzerin deutscher Lyrik. Schon als Schülerin hatte sie ihre ersten Gedichte in einer Zeitschrift veröffentlicht.

    "Von den Redakteuren ein sehr neuer alter netter alter Mann ... gelesen und hat gesagt. 'Aber liebe Mirela, aber liebes Kind, du mußt mehr gegenwärtige Poesie lesen. Was sind das für Gedichte! Aber ein Gedicht hat welche Chancen!"

    Wie andere Menschen in diesem Alter drängt die Erfahrung beendeter Kindheit und Noch-nicht-Erwachsensein die Schülerin zum Ausdruck. Aber Ivanova beginnt die Poesie der Zeitgenossen, auch die deutsche Lyrik, systematisch zu studieren. Nicht nur die Unrnittelbarkeit der Nöte einer Pubertierenden zwingt sie zum Schreiben - Poesie wird zum Lebensmittel schlechthin.

    Flügel" lautet der Titel des Gedichtbands der erst dessen Veröffentlichung in die bleierne Zeit der späten Shivkov-Ära fällt. Die Wende von '89 kommt dann überraschend. Die Menschen nehmen sie eher verwundert wahr als daß sie am Umsturz beteiligt wären. Und erst während der folgenden Jahre erweist sich die die Wende als geschicktes Manöver, mit der sich die Nomenklatur ihre Pfründe zu sichern versteht.

    Ivanova beginnt, journalistisch zu arbeiten. Im Feuilleton der auflagenstarken Zeitung "Standard" gestaltet sie wöchentlich eine Seite. Der Hunger nach bisher verbotenen Texten der bulgarischen Literatur ist groß. So groß, daß auch das "Poesiekabarett", das Ivanova mit dem Dichterkollegen Bojko Lamborski gründet und mit dem beide das Land bereisen, enormen Zulauf hat. Einem bestimmten Drehbuch folgend und von Musikern unterstützt, tragen Ivanova und Lamborski eigene Gedichte, aber auch die von Kollegen und den Klassikern vor.

    Ein vergleichbares Konzept verfolgt man in einer dreizehnminütigen Fernsehsendung. Wohlgemerkt: Die Gedichte werden nicht gelesen, sie werden auswendig vorgetragen. Das belegt ein innigeres Verhältnis zur Poesie als man es im Westen gewohnt ist. Und umso weniger erstaunlich, wenn die Menschen bei der Revolution von 95/96 die Gedichte des Nationalschriftstellers Botev sangen, wie hundert Jahre zuvor beim Kampf gegen die türkischen Besatzer.

    Die Verneinung des bisher Geschriebenen ist der bulgarischen Dichterin fremd. Und doch sieht sich die Ivanova eher in der Nachfolge einer weiblichen Poesie, die gerade nicht traditionsbildend war:

    "Die Frage, warum gibt es keine Frauentradition ist sehr interessant, das ist nicht nur bei uns, das ist überall so. Es gibt eine Tradition, und ein, zwei bis drei Frauen, die als Namen, als Sterne, ja ...es gibt einen Unterschied zwischen Frauen und Männern, die Gedichte schreiben ...es ist ein anderes Lebensgefühl, die Frauen sehen die Welt anders..."

    Dieses Anderssein wird nicht bloß behauptet. In einer Poesie reflektierter Empfindungen stellt es sich erst her. Dabei leugnet Ivanova nie die Widersprüchlichkeit des lyrischen und erkennbar weiblichen Ichs, die sie freilich in Vielstimmigkeit übersetzt. Und in der Konzentration auf dieses Ich wird die gesellschaftliche Welt präzise und schmerzhaft erfaßt.

    Daß die totalitäre Sprache beerdigt ist, ist für Dichterin das wichtigste Ergebnis der Wende von '89. Jeder sei jetzt gezwungen, seine eigene Sprache zu finden. Ivanova hat eine offene, ungeschützte und dennoch hoch artifizielle Gedichtsprache entwickelt. Nach fünf Gedichtbänden, einem sechsten, der im nächsten Jahr in Sofia erscheinen soll, liegt die Frage nach dem, was die Dichterin in Zukunft vorhat, nahe. Mirela Ivanova antwortet lachend:

    "Früher, vor der Wende, haben wir das 'Pläne' genannt, wir machen Pläne. Jetzt machen wir Projekte. Und ich - habe nur Sehnsucht. "