Liminski: Herr Reinhard, in Mazedonien wird verhandelt. Räumen Sie diesen Verhandlungen große Chancen ein? Die Erfahrung lehrt ja, dass das eigentlich immer nur Kampfpausen waren - zur Sammlung und Neuausrüstung der Truppen.
Reinhard: Ich glaube, wir haben eine Situation vor uns, in der sehr lange zu wenig verhandelt worden ist, in der die mazedonische Seite und die albanische Seite sehr stark von der Forderung der jeweiligen Machtposition heraus auf die andere zugegangen ist. Ohne die Intervention der NATO in der Verhandlung - glaube ich - bewegt sich im Augenblick dort unten überhaupt nichts. Wo wir landen werden, weiß ich nicht. Aber ich meine, wir sollten jede Möglichkeit der Verhandlungen ausnützen, um zu vermeiden, dass es dort zu einer erneuten großen Auseinandersetzung kommt.
Liminski: Wenn nun die Verhandlungen scheitern sollten und die Schießerei wieder los geht, entsteht dann für uns Handlungsbedarf? Es könnte ja - wie Bismarck übrigens - die demoskopische Mehrheit der Deutschen sagen: ‚Lasst die sich doch gegenseitig umbringen, solange keine Flüchtlingsströme zu uns herüberkommen'. Müssen wir dann aus humanitärem oder sogar auch aus eigenem Interesse eingreifen?
Reinhard: Ich meine, wir können ja nun heute eigentlich nicht die Augen vor der Realität zumachen. Wir haben 3.500 Soldaten im Kosovo, wir haben Soldaten in Mazedonien. Alles, was in Mazedonien läuft, hat irgendwo Auswirkungen auf die Sicherheit unserer Soldaten dort. Und wenn da unten geschossen wird, ist es im ursächlichen Interesse unserer Soldaten, dafür zu sorgen, dass diese Schießerei aufhört, denn wir sind da unten in einer Friedens- und nicht in einer Kriegsoperation. Das heißt, wir können nicht einfach sagen: ‚Das interessiert uns nicht', sondern es ist im Interesse der Sicherheit aller Soldaten, die da unten in KFOR eingesetzt sind, dass erhandelt wird und dass es nicht zu einer Ausweitung des Konflikts kommt.
Liminski: Die Fraktionsführung der SPD behauptet, es sei kein Kriegseinsatz geplant; man wolle lediglich eine politische Lösung mit der Autorität der NATO sichern. Ist das vom grünen Tisch gedacht? Entspricht das der Realität auf dem Gefechtsfeld?
Reinhard: Ja, ich glaube schon. Die NATO hat ein unglaublich hohes Ansehen, sowohl bei der Regierung in Mazedonien als auch bei den Rebellen. Ich glaube, ohne das Eingreifen der NATO würden weitere Verhandlungen überhaupt keine Chancen mehr bieten. Hashim Thaci, der politische Führer der UCK, hat die NATO gebeten, mit zu intervenieren. Nun haben wir relativ lange gebraucht, wir haben eine ganze Woche in der letzten Woche verloren. Robertson und auch Solana von der Europäischen Union sind unten. Wir werden sehen, was sie letztendlich aushandeln werden; aber es ist höchste Zeit, dass die Kalaschnikows aus den Händen dieser Rebellen genommen werden, damit Politik mit Argumenten und nicht mit Waffen in der Hand betrieben wird.
Liminski: Der israelische Militärhistoriker und Kriegstheoretiker Martin van Krefeld mein in diesem Zusammenhang, eine Intervention könne sinnvollerweise nur mit Bodentruppen geleistet werden. Es handle sich um Rebellen, die ihre Waffen eben nicht freiwillig abgeben würden oder jedenfalls nicht alle. Bisher sei es keiner regulären Armee gelungen - sagt er -, eine Terror- oder Guerillatruppe zu besiegen, selbst den Israelis im Libanon nicht, und es werde dann auf jeden Fall zu erheblichen Verlusten auch an Menschenleben kommen. Sie kennen - wir haben es eben angedeutet - die Kontrahenten vor Ort. Teilen Sie diese Einschätzung?
Reinhard: Ich glaube, dass die Albaner auch versuchen - die albanische UCK -, nach dem sie sehen, dass ihnen der politische Durchbruch nicht gelungen ist, zu einer Lösung zu kommen, aus der sie sich wieder mit Gesichtswahrung herausziehen können. Ihnen geht es ja im Grunde genommen auf der einen Seite um die Verbesserung der Lebens- und der demoskopischen Verhältnisse ihrer Minderheit. Das muss mit unserer Hilfe in der mazedonischen Verfassung festgelegt werden. Hier muss sich die NATO, hier muss sich die Europäische Gemeinschaft mit Sicherheit weiter engagieren, dass die mazedonische Regierung der albanischen Minderheit entgegenkommt. Aber wo wir nicht entgegenkommen können und sollen, ist eine Überlegung eines Groß-Kosovo, eines Groß-Albaniens, weil das natürlich der Brand auf dem gesamten Südost-Balkan wäre. Und deswegen ist es so notwendig, diese Sache vor Ort einzudämmen. Ich glaube schon, dass es die Möglichkeit gibt; ich bin da nicht so pessimistisch. Und wir haben hier nicht die Verhältnisse wie mit der Intifada zwischen den Palästinensern und der israelischen Armee, sondern wir haben es hier mit Leuten zu tun, mit denen man durchaus noch real und realistisch verhandeln kann.
Liminski: Falls es nun im Bundestag nicht zu einer Mehrheit für den Mazedonieneinsatz kommt - es ist ja durch die Rebellion der 23 SPD-Abgeordneten sowie durch den Widerstand bei den Grünen und vor allen Dingen bei der Opposition gut möglich: Könnte das unserem Ansehen bei den Verbündeten größeren Schaden zufügen?
Reinhard: Aber natürlich wird es das tun, wenn es das nicht schon getan hat. Ich meine, die Bundesregierung hat sich in der Bündnispolitik mit großen Worten in der Modernisierung der Streitkräfte der NATO und auch in dem Aufbau der Streitkräfte für eine europäische Verteidigung engagiert. Überall dort, wo es Kosten verursacht, haben wir uns sehr vornehm zurückgehalten. Das haben die anderen sehr wohl mitbekommen. Wenn wir nun auch noch als eines der stärksten Kontingente auf dem Balkan uns bei einer Aktion, in der die Sicherheit unserer Soldaten und die unserer NATO-Kameraden und Nicht-NATO-Kameraden - es sind ja sehr viele Nicht-NATO-Truppen da unten - nicht mehr engagieren, sondern die andern für uns die Kastanien aus dem Feuer holen lassen, dann hat das mit Sicherheit erhebliche Auswirkungen auf das Ansehen der Bundesrepublik - aber auch auf das Ansehen unserer Soldaten dort unten.
Liminski: Wie meinen Sie das, wie stünden unsere Truppen im Kosovo da? Sie sind ja dann eigentlich unschuldig an der politischen Situation.
Reinhard: Sie sind natürlich unschuldig, aber wir haben ja nun schrittweise uns auf die Normalität der anderen NATO-Soldaten hochgearbeitet in diesen Auslandseinsätzen. Wir sind dort unten gut; wir bringen eine ausgesprochen gute Leistung mit der Bundeswehr. Unsere Kameraden, die da unten sehen, was die deutschen Soldaten tun, sind voller Anerkennung über das. Aber wenn die Deutschen sich nun aus einem Bereich, der die gesamte NATO dort unten betrifft, herausziehen und sagen: ‚Lasst das doch die anderen machen, weil wir aus falsch verstandener Kirchhofspolitik sagen, das interessiert uns nicht' - dann hat das mit Sicherheit Auswirkungen auf das Ansehen der Bundeswehr dort unten. Da gibt es gar keine Frage.
Liminski: Müsste man sich denn in der Konsequenz dann nicht ganz zurückziehen?
Reinhard: Wissen Sie, Sie beginnen ja nie mit der Stunde Null. Wir sind nun drin. Die Bundeswehr ist in dem Bereich des gesamten Balkan seit 1994 mit UNPROFOR, mit IFOR, mit SFOR und jetzt mit KFOR. Natürlich kann man sich daraus zurückziehen, aber das hat natürlich erhebliche politische Konsequenzen, die ich nicht im weiteren bewerten möchte, aber die natürlich im Ansehen und in der Glaubwürdigkeit dessen, was wir politisch bis jetzt getan haben und weiter tun werden, nicht gerade positiv sein werden. Ich meine, ein Rückzug jetzt - als Nation alleine - aus diesem gesamten Bereich, würde massive Auswirkungen im Bündnis und in unserem Ansehen im alliierten Bereich haben.
Liminski: Der Bundeswehrverband, Herr General, meinte gestern abend, die KFOR könnte den Job der Entwaffnung übernehmen, und zwar an den Grenzen - da, wo sie noch stationiert ist. Dort könnten die Rebellen ihre Waffen abgeben, man bräuchte keine zusätzlichen Einheiten in die Region schicken. Ist das realistisch?
Reinhard: Das ist aus meiner Sicht nicht realistisch. Natürlich muss die KFOR die Grenze nach Kosovo zumachen, und das hat sie auch gemacht - ähnlich, wie wir auch dafür sorgten, dass die Rebellen in der Sicherheitszone im Pressovotal entwaffnet wurden. Das muss sein. Aber damit kann ich natürlich die Rebellen, die sich auf mazedonischem Gebiet befinden, nicht entwaffnen. Da muss einer helfen. Wer nun letztendlich die Waffe in die Hand nimmt, ob das die mazedonischen Streitkräfte, die mazedonische Polizei ist und die NATO einen Sicherungsring drum rum baut - wie das alles im einzelnen aussehen wird, dazu möchte ich mich nicht äußern, dazu haben wir Kommandeure vor Ort. Aber sich nur an die Grenze von Kosovo hinzustellen und zu sagen: ‚Wir machen die Grenze dicht', genügt nicht, um den Konflikt in Mazedonien zu lösen.
Liminski: Ich will noch einmal auf die politische Seite kommen. Ist politisch nicht schon Schaden entstanden? Zunächst hieß es ja: Wir machen nicht mit. Dann kam der Beschluss der NATO ohne die Deutschen zustande, und jetzt springen wir sozusagen noch als Hilfstruppe unter französischem Kommando verspätet ins Boot.
Reinhard: Also, mitzumachen - unter welchen Rahmenbedingungen auch immer - unter französischer Führung, die auch nur ein Teil des Gesamtkontingents sind - oder nicht, das ist für mich nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist die Bündnissolidarität, ob wir uns an einer Aktion, die die gesamte KFOR betrifft, beteiligen oder nicht. Wie man nun die einzelne Operationsführung und -unter-stellungsregelung löst, darüber kann man lange streiten. Aber ich glaube, das ist eine zweitrangige Frage. Die primäre Frage ist: Wenn dort unten die NATO gefordert wird, wird die Bundeswehr dabei sein - ja oder nein. Und ich meine, man sollte nicht auf der einen Seite aus innenpolitischen Gründen und auf der anderen Seite aus meines Erachtens sehr, sehr eng begrenzter moralischer Position heraus nun eine Aktion in Frage stellen, die für die Sicherheit unserer Truppen von entscheidender Bedeutung sein kann.
Liminski: Rechnet man eigentlich noch mit den Deutschen? Den Verbündeten ist ja auch bekannt, wie es finanziell um die Bundeswehr mit ihrer Einsatz- und Bündnisfähigkeit steht. Haben Sie nach Ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst noch ein Echo bekommen?
Reinhard: Man muss zwei Dinge unterscheiden: Unsere Truppen, die dort unten im Einsatz sind, sind ausgesprochen gut ausgerüstet; sie sind gut ausgebildet. Sie haben volle Akzeptanz und können mit allen anderen Truppen uneingeschränkt mithalten. Da gibt es hier und da Schwierigkeiten, und manches ist nicht optimal, aber es ist bei keiner Nation optimal, denn es kann ja keiner aus dem Vollen schöpfen. Für das, was wir da unten tun müssen, sind unsere Truppen im Grunde genommen vernünftig ausgerüstet. Das gilt in gleicher Form auch für einen möglichen Einsatz - so wie er jetzt für Mazedonien geplant ist. Unabhängig davon muss man aber sagen, dass die Truppe zu Hause einen unglaublichen Investitionsstau hat. Das heißt, wir können unsere Streitkräfte materiell in den Waffensystemen bei weitem nicht so modernisieren, wie wir es dringend bräuchten und wozu wir uns verpflichtet haben. Und da kommen wir jetzt in erhebliche Schwierigkeiten auch in der Glaubwürdigkeit unseren Alliierten gegenüber.
Liminski: Ganz kurze Frage zum Schluss, Herr General: Sie waren nicht nur im Kosovo und in Mazedonien, sondern auch in Somalia und in anderen Krisengebieten der Welt als Offizier internationaler Verbände tätig. Wenn Sie einen Vergleich anstellen wollten - wo ist es am gefährlichsten?
Reinhard: Die Gefährlichkeit ist im Grunde genommen die Unsicherheit, dass in einem solchen Fall, wo Sie keine Regierung haben, wo Sie Rebellen haben, wo Sie mit allen möglichen Leuten verhandeln und ähnlich wie Bismarck mit fünf Kugeln permanent spielen und hoffen, dass Ihnen keine runterfällt - aus diesem Bereich ununterbrochen einer ausbrechen kann und plötzlich gegen Sie steht. Ähnlich haben wir es jetzt in Mazedonien mit der UCK. Diese Unsicherheit ist im Grunde genommen die größte Gefahr; und die war in Somalia genau so gegeben wie bei IFOR, bei SFOR und jetzt bei KFOR. Deswegen schickt man ja nun Streitkräfte und deswegen schickt man nicht die Feuerwehr von Passau, weil es eben ein Risiko ist. Und die Frage ist: Wie weit kann man das Risiko eingrenzen. Und das ist bis jetzt im Kosovo gut gelungen, aber in Mazedonien nicht.
Liminski: Das war General Klaus Reinhard, ehemals Oberkommandierender der KFOR-Truppen. Besten Dank.
Reinhard: Bitteschön.