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Einsichten in den tristen Büroalltag

In seinem knapp 850 Seiten starken Megaroman resümiert der Niederländer J. J. Voskuil Eindrücke aus 30 Jahren Bürotätigkeit an einem wissenschaftlichen Institut. Entstanden ist eine Art literarischer Lebensalltagsbegleiter, in dessen Licht man sich vergleichend positionieren kann.

Von Anja Hirsch | 28.10.2012
    Der Büro-Roman ist als Genre ein Zwitterwesen, luzide wie bei Robert Walser oder trocken wie ein Kaffeekeks, so etwa bei W.E. Richartz, der sein Werk der Einfachheit halber gleich so nannte: Büroroman. Als der 1976 erschien, sah die Welt freilich noch anders aus. Inzwischen ist mit Rainald Goetz' neuestem Werk endlich auch der gnadenlose Knockout im kapitalistisch organisierten Gegeneinander von heute erfasst. Der niedrige oder höhere Angestellte, oder sagen wir: der von Arbeit und Lohn Abhängige an sich hat in der Literatur Stellung bezogen wie ein etwas ungebetener Gast. Will man denn vom täglichen Einerlei auch noch lesen? Der Import eines wuchtigen Megaromans aus den Niederlanden, der alle Rituale täglichen Geldverdienenmüssens verzeichnet und noch viel mehr, lässt da aufhorchen.

    "An einem der letzten Tage jeden Monats kam der Buchhalter des Hauptbüros durch den Garten und brachte die Gehälter. Es war ein dicker junger Mann in einer viel zu engen Jacke, die er stets in der Mitte zugeknöpft hatte, so dass sie sich um seinen Körper spannte. Weil er darauf bestand, dass jeder das Geld, das er in zugeklebten, durchsichten kleinen Umschlägen bei sich hatte, in seiner Anwesenheit nachzählte, dauerte es geraume Zeit, bis er seinen Rundgang bei Beerta beendet hatte."

    Geschrieben hat "Het Bureau", wie die 5000 Seiten im Original heißen, der niederländische Volkskundler Johannes Jacobus Voskuil schon in den Jahren 1990 bis '95. Seine Landsleute waren bei Erscheinen Ende der 90er-Jahre sofort aus dem Häuschen. Wie bei Harry Potter standen sie Schlange für jeden neuen Band. Es gab Fanclubs, ein Theaterstück, ein Hörspiel und Führungen durch das echte Büro, wo einen Menschen begrüßten mit den Namensschildern der Figuren aus dem Roman. Vorbild war das Meertens Institut, an dem Voskuil selbst 30 Jahre lang als wissenschaftlicher Beamter mit dem Aufbau eines riesigen Schlagwortkatalogs zur Volkskunde beschäftigt war. Womöglich der unspektakulärste Ort in Amsterdam.

    "Das Mobiliar bestand aus einem außergewöhnlich großen Schreibtisch mit einem Aufsatz, der vor langer Zeit einmal einem berühmten Sprachwissenschaftler gehört hatte, einer Sitzgruppe aus drei Sesseln sowie einem langen Tisch, der zum größten Teil mit Stapeln von Büchern und Papieren bedeckt war. An den drei Wänden waren Bücherregale angebracht. Die Tür befand sich in der Ecke neben dem Fenster und hatte in der oberen Hälfte sechs Glasscheiben, von denen die beiden untersten an der Außerseite mit einem rosafarbenen Vorhang zugehängt waren, so dass Beerta nicht in den mittleren Raum sehen konnte, den sich Fräulein Haan und der Zeichner teilten."

    Es geht gemächlich zu in diesen 50er- und 60er-Jahren, die wir den Angestellten Maarten Koning durch dieses Büro begleiten. Am liebsten würde er gar nicht arbeiten, und auch seine Frau Nicolien ist regelrecht wütend, als er die neue Stelle antritt, anstatt die Zeit mit ihr zu verbringen. Linken Idealen zugeneigt, möchte sie keinen Mann, der täglich woanders seine Zeit absitzt. Und schon gar nicht soll er Karriere machen. Eher durch Zufall und wegen der alten Bekanntschaft aus Studienzeiten gerät der kontaktscheue Maarten Koning an Direktor Beerta, einen wendigen, erfindungsreichen Mann mit einigem Temperament.

    "'Und, weißt du schon, weshalb du hier arbeiten willst?'
    'In erster Linie, weil es keinen Anspruch auf irgendetwas erhebt.'
    Seine Antwort überraschte Beerta. Er zog die Augenbrauen hoch.
    'Das bedeutet doch hoffentlich nicht, dass du dir hier kein Bein ausreißen willst?' Er stotterte kurz.
    'Nein, soo war das nicht gemeint.'
    Beerta sah ihn prüfend an, als fragte er sich, was er damit meinte.
    Maarten lächelte schuldbewusst. 'Ich werde meine Sache so gut machen, wie es mir möglich ist. So wie ein Tischler einen Schrank macht.'"


    Maarten Koning ist ein interessanter Mann, klug und mit leichter Verweigerungshaltung gegenüber dem Leben, keineswegs übereifrig, aber doch pflichtbewusst. Er sitzt schon bald zur Rechten Beertas, von ihm um Rat gefragt in personellen wie privaten Dingen, eine Nähe, die Koning nicht immer behagt. Gleichwohl gibt es klare Grenzen und Hierarchien wie in jedem Büro. Es ist aber doch ein besonderes Institut, das Direktor Beerta hier im Zentrum Amsterdams zur Erforschung des niederländischen Volksglaubens aus der Taufe gehoben hat.

    Die Geisteswissenschaften haben seit je einen Randplatz im Universitätsolymp. Die Volkskundler unter ihnen müssen allerdings besonders um ihre Wichtigkeit kämpfen. Und vieles, was Voskuil uns über das Arbeitsleben mitteilt, ist dem Grundkonflikt geschuldet, dass der Einzelne Schwierigkeiten hat, für das große Anliegen wirklich zu entflammen. Voskuils Büro ist eigentlich überflüssig. Die Angestellten ordnen Archive oder schicken Fragebögen durchs Land - etwa, um der drängenden Frage nachzugehen, in welchen Regionen wie an das Irrlicht geglaubt wurde. Nichts, wovon das Leben abhängt. Und viel, was trotz der Fördergelder einfach im Sande verläuft. Um so mehr muss man selbst an der Größenfantasie arbeiten.

    "'Du bist Lehrer gewesen?', fragte Beerta.
    'Ja, mein Herr', antwortete Veen nervös.
    'Aber du konntest keine Ordnung halten, habe ich gehört.'
    'Nein, ich konnte keine Ordnung halten.'
    'Aber hier brauchst du keine Ordnung halten', beruhigte Beerta ihn ironisch. 'Wenn du nur pünktlich bist. Bist du gewissenhaft?'
    'Nicht so besonders.'
    'Dann wird Nijhuis dir das beibringen müssen. Gewissenhaftigkeit genießt hier Priorität. Wenn du nicht gewissenhaft bist, machst du Fehler, und das können wir uns nicht erlauben. Was wir hier tun, ist für die Ewigkeit bestimmt.'"


    Voskuils liebstes Stilmittel ist der Dialog, eine orale Wunderwaffe, die er selbst dann einsetzt, wenn weder Information noch Emotion transportiert werden. Verblüffend, dass man trotzdem bald in den Sog dieser provozierend nüchtern gehaltenen Prosa gerät. Sie tritt seltsam beruhigend auf der Stelle und wiegt sich matt im entschleunigten Rhythmus einer längst verstrichenen Zeit, wo Wettbewerb zwar kurz mal aufflammt, schnell aber wieder verebbt.

    In großen Abständen muss ein neuer Atlas der Volkskunde veröffentlicht werden. Was dazwischen passiert, liegt ganz im Ermessen des Einzelnen, und gerne passiert eben auch einfach lange nichts. Man hat viel Zeit für einen Plausch über unliebsame Kollegen oder die Träume der letzten Nacht. Es gibt, wie erwartbar, Tratsch und Intrigen, böswilliges Nachäffen besonderer Ticks, bisweilen auch Einsatz für Randexistenzen, alle scharf und mit knappem Strich skizziert. Beertas Büro ist ein Sammelbecken für kuriose Typen, für Zwanghafte, Zyniker, Melancholiker, Buchhalter, die hier arbeiten, ohne sich groß verbiegen zu müssen. Höhepunkte im Instituts-Alltag sind das Eintreffen neuer Arbeitsgeräte. Danach beugt man sich wieder über Karteikarten, die in roter und grüner Schraffur den Wichtelmännchenglauben verzeichnen.

    "'Ich glaube, Fräulein Haan hat ihr Tonbandgerät bekommen', sagte er amüsiert. Er öffnete mit einem geheimnisvollen Lächeln die Tür und verließ den Raum. Maarten lauschte dem Lärm. Er fühlte sich ausgeschlossen, doch er hatte keine Lust, sich zu den anderen zu gesellen. 'Sag du jetzt mal was!', hörte er Fräulein Haan sagen. 'Nein, nein', protestierte Beerta. 'Ich sage nichts.' - 'Es ist schon drauf!', rief Wiegel. - 'Ist es schon drauf?', hörte er Beerta sagen, 'a-aber das ist...' Seine Worte wurden von seiner eigenen, mehrfach verstärkten Stimme und lautem Gelächter übertönt.
    'Es ist ein Werk des T-teufels', sagte Beerta genüsslich, als er zehn Minuten später den Raum betrat. 'Ich finde es gruselig. Ich bin froh, dass ich damit nicht zu arbeiten brauche.'"


    Es hat also schon ein bisschen Staub angesetzt, dieses Voskuilsche Büro, von dem nun auf deutsch von Gerd Busse souverän übersetzt der erste voluminöse 800-Seiten-Band vorliegt. Und falls der niederländische Bürohengst auch hierzulande erfolgreich eingaloppiert, will der C.H. Beck Verlag weitere Bände nachlegen.

    Was treibt einen an, so viel über das Büroleben und alles, was dieses Leben kreuzt, zu Papier zu bringen? Bei Johannes Jacobus Voskuil war es nach der Pensionierung die überraschende Erkenntnis, dass 30 Jahre Arbeit keine Spuren hinterließen. Sie schienen sich einfach verflüchtigt zu haben, und es war, als hätte er gar nicht gelebt, sagt er in einem Interview. Dann träumte er, aus seinem eigenen Grab heraus Menschen zu sehen, ohne sie zu erkennen. Also schrieb er "Het Bureau", als Vergewisserung, dass dieses Arbeitsleben stattgefunden hat. Das Ergebnis sind rund 5000 Seiten Introspektion eines Arbeitslebens, das von 1957 bis ins Jahr 1989 reicht. Allein dieser Weitwinkel macht das Projekt einzigartig und zum Spiegel der jeweiligen Zeit, die im Mikrokosmos Büro zu bizarren Szenen kondensiert.

    "'Tag, Maarten', sagte Beerta. Er wartete, bis Maarten seinen Platz eingenommen hatte, und drehte sich dann langsam zur Seite, so, dass er ihn sehen konnte. 'Fräulein Haan möchte ab heute mit 'Frau' angeredet werden.' Er sagte es in ernstem Ton, doch der Ernst hatte bei Beerta immer etwas Doppeldeutiges, so als ob er sich schon im Voraus auf die Wirkung seiner Worte freute.
    'Warum?', frage Maarten widerwillig.
    'Weil sie findet, dass es ihr als promovierter Frau zusteht.'
    'Dann sollte ich mich demnächst wohl mit 'junger Mann' anreden lassen', sagte Maarten mürrisch."


    Seit Fernsehformaten wie "Stromberg" oder "Mad Men", das Revival einer New Yorker Werbebranche der 60er-Jahre, mit steifer Bluse, falscher Förmlichkeit, feschen Kreativen, scheint die Büroflurperspektive attraktiver denn je. Zum erfreulichen Muskelspiel wird das Genre aber erst, wenn es nicht nur Zeitkolorit malt, sondern den Einzelnen im Blick behält. Robert Walsers Roman "Der Gehülfe" oder Wilhelm Genazinos frühe "Abschaffel"-Romane haben das vereint. Und auch Voskuils Roman ist vorwiegend aus dem Zwangskorsett einer Figur heraus erzählt, die zeitlos wirkt.

    "'Manchmal', erklärte Maarten, 'natürlich nicht immer, sondern nur manchmal, fühle ich mich so bedroht, dass ich dir die Orte, an denen ich mich noch sicher fühle, an einer Hand aufzählen könnte: meine Wohnung, der schmale Korridor zwischen meiner Wohnung und dem Büro, das Büro. Drum herum lauert die Gefahr. Aber wenn ich dem nachgeben und mich in meine Wohnung zurückziehen würde, wäre der nächste Schritt, dass ich mich nicht mehr aus dem Haus traue.'"

    Der etwas mürrische, gerne gegen Beerta aufbegehrende Maarten Koning hadert mit allem, fällt aber nie aus dem System. Er verkörpert den modernen Berufstätigen, der unter dem Anpassungsdruck private, unverformbare Gedanken hervorzubringen versucht. Er mag zwar in einem bestimmten Institut agieren, mit regionalen Besonderheiten über Sprache und Dialekt, die nur Niederländer wirklich zu schätzen wissen und die in der deutschsprachigen Ausgabe notgedrungen etwas verflachen. Was es nun wirklich bedeutet, wenn jemand "Seeländer" ist, wird den deutschsprachigen Lesern verschlossen bleiben.

    Im Grunde aber sind alle Typen, insbesondere Koning selbst, fast problemlos in andere Systeme verpflanzbar. Koning scheint aus vielen Vorbildern zusammengesetzt und doch ganz autonom in der Literatur. Sicherlich steckt etwa ein Keim Bartleby in ihm, jener Schreiber aus der Erzählung Herman Melvilles. Bartleby hat es bekanntlich wegen seiner stoischen Antihaltung zur Arbeit, zum Leben an sich, zu gewissem Ruhm gebracht hat. Und auch Koning kennt den Geschmack von Ödnis.

    "Während er geistesabwesend die letzte Karte betrachtete, wurde er sich zum ersten Mal an diesem Tag einer bodenlosen Traurigkeit bewusst, die nun wie eine Flutwelle aufstieg und in der er zu ertrinken drohte."

    Voskuil, der Autor, selbst 30 Jahre lang angestellt bei einem Institut dieser Art, gibt diesem selbstzerstörerischen Bartlebyschen Keim aber keine Chance. Er lässt ihn nur immer mal wieder durchscheinen, als Warnung für Maarten Koning. Letztlich trifft das Scheitern aber nur Nebenfiguren, etwa den jungen Frans Veen, der kurze Zeit im Institut arbeitet, dann als Lehrer versagt, später Käfer zeichnet und schließlich traurige Briefe aus der Psychiatrie schreibt. Durch seine Geschichte tropft etwas Düsteres in das ansonsten so gängige Getriebe des Roman.

    "So, endlich. Ich treffe Entscheidungen. Einen Abend lang beschäftige ich mich nur damit, was ich tun werde. Ich überlege und überlege. Auf die Dauer zeigt sich, dass ich nichts anderes tue, als Lieder vor mich hinzusummen.
    Ich habe einmal gedacht, in meinem Zimmer meine Instinkte so anspannen zu können, dass das Gewebe reißt, die Haut platzt, Blut an die Wand spritzt und schließlich alle Dämme brechen. Doch dafür hat man Türen gemacht, und deshalb laufe ich immer weg."


    Das Weiterleben des Maarten Koning interessiert hier mehr als dessen Scheitern. Diese Blickrichtung macht Voskuils Opus magnum weniger zu einem puristischen Büro-Roman, sondern als vielmehr zu einem Buch über das schmucklose Leben - so, wie es eben ist. Das ist abgrundtief ehrlich. Aber man muss das eben auch aushalten können - diese Langeweile, diese Leere, diese Suche nach Sinn während scheinbar sinnloser Tätigkeiten, diesen von Irrlichtern erhellten erzählerischen Realismus.

    Beglückend ist die Lektüre deshalb eher in Happen, nicht zu lange Strecken an einem Stück, aber auch mit nicht zu langen Pausen dazwischen, sonst greift der Serieneffekt nicht, der sicherlich in den Niederlanden für das große Verlangen nach weiteren Bänden sorgte. Gewappnet mit dem Grundriss des Büros und einer Liste der wichtigsten Personen, lassen sich Nebenthemen verfolgen, die ganz aus der Bürowelt herausführen. Die Homosexualität des überdies stotternden Direktor Beertas, der äußerst rege ist im Anträgeschreiben und Beschaffen von Stellen, fließt immer wieder in Untertönen mit ein. Voskuil spiegelt Haltungen, aber auch Ressentiments und so manches Klischee.

    "Als Maarten in sein Zimmer zurückkam, fand er Beerta beim Schnüffeln in seinem Karteisystem. Er sah Maarten an, als fühle er sich ertappt. 'Ich habe mich gefragt, ob du hier drin auch etwas über das Bürgermeistern hast', sagte er mit einem geheimnisvollen Lachen.
    'Was ist das?' Er setzte sich an seinen Schreibtisch.
    'Weißt du das nicht?' Er machte einen Schritt auf Maarten zu und sah ihn lächelnd an, die Hände auf dem Rücken.
    'Nein.'
    'Das ist, wenn in einem Dorf ein Junge gesch-schlechtsreif wird und ihn die älteren Jungen dann an einen stillen Ort mitnehmen, wo sie diesem Buschen die Hose ausziehen und ihn...', er zögerte, 'zum B-bürgermeister machen.' Er blickte Maarten direkt in die Augen, und es lag deutlich Erregung in seiner Stimme. 'Hast du wirklich niemals davon gehört?'"


    Abwechslung gibt es für den Leser immer dann, wenn Koning das Büro verlässt, etwa um zu Hause bei Genever mit seiner Frau Nicolien seinen Vater zu empfangen. Auch da hält Voskuil an der Regel fest, nichts zu beschönigen. Man geht höchstens für einen Kinofilm ins Tuschinski und schweigt ansonsten viel. Und zum Ausruhen vom angespannten Treffen gibt es immer irgendwo eine Gracht, bevor Koning am nächsten Tag wieder zum Schreibtisch aufbricht, notgedrungen auch mal in die Provinz zur Feldforschung im Altersheim "Abendsonne" oder nach Westfalen zum Besuch einer Konferenz.

    "'Bist du nie in Deutschland gewesen?', fragte Beerta ungläubig.
    Sie saßen im Zug einander gegenüber, auf dem Weg zum Kongress des Atlas für deutsche Volkskultur, und waren gerade vom deutschen Zoll kontrolliert worden. Maarten hatte sein Erstaunen darüber ausgedrückt, dass die Zöllner noch genauso verkleidet waren und sich genauso verhielten wie im Krieg.
    'Nein', sagte Maarten. 'Man geht nicht nach Deutschland. Jedenfalls nicht zum eigenen Vergnügen.'"


    Voskuil versucht gar nicht erst, Schwung in sein Großprojekt zu bringen. Er schreibt einfach und klar, scheut die Überhöhung seines Stoffs durch Metaphern oder übertriebene Rede, und auch die Satire ist seine Sache nicht. Ein Gespür für Komik hat er schon. Er lässt sie still beim Leser entstehen, indem er Dialoge im absurdesten Moment einfach abreißen lässt. Manche könnten aus Loriots Feder stammen.

    Dass keineswegs aufgepeitschtes Erzählen, sondern im Gegenteil eine betont langsame Ästhetik den Kult um ein vergangenheitsverliebtes Institut ausgelöst hat, ist das eigentlich Erstaunliche an diesem Großprojekt. Statt großen Zauber zu veranstalten, bleibt Voskuil auf dem Boden nackter Tatsachen. Er macht eben keinen Hehl daraus, dass etwa Konferenzen in Gesprächen nur als Wort einen gewissen Klang und Renommee verheißen. In Wirklichkeit strandet man abends alleine in irgendeinem Restaurant und sehnt sich nach Hause.

    "Während er, mit einer enormen weißen Serviette über den Knien, gedankenverloren seine viel zu heiße Suppe in sich hineinlöffelte, kam die Frau noch einmal vorbei, um die Vorhänge zu schließen, die mit Holzringen an einer glänzenden braunen Stange befestigt waren und von der Decke bis zum Boden reichten. Das ist also das Abenteuer, dachte er vage, bestärkt in der im Laufe des Tages verschiedentlich gehegten Vermutung, dass er für dieses Leben nur schlecht gerüstet war."

    Oft betreibt der Roman auch einfach Nabelschau aufs eigene Fach. Übersättigt wird man damit aber nicht, dafür sorgen allein die Menschen, die im Vordergrund agieren, während man etwa die Wände von Bauernhäusern untersucht oder dem Phänomen des "Kornschrecks" nachgeht. Die Volkskunde schneidet als schwammig definiertes Gebiet nicht sonderlich gut ab. Manchem Mitarbeiter ist sie Deckmantel für braune Gesinnung oder zumindest Projektionsfläche für eigene obskure Interessensgebiete. Im größeren dramaturgischen Verlauf geht es aber schon darum, das stumpfsinnige Sammeln von Material mit Analyse zu verknüpfen, Buchhaltung und Wissenschaft also sinnvoll zu kreuzen, und Maarten Koning gelingt tatsächlich bald eine kleine Sensation, als er untersucht, wo die Nachgeburt eines Pferdes aufgehängt, wo sie begraben wurde.

    "Die Entdeckung verursachte bei ihm eine fieberhafte Erregung, in der er in rasendem Tempo alle Berichte über das Begraben, Vernichten, an die Schweine Verfüttern und auf den Misthaufen Werfen mit in die Karte einzeichnete und sah, wie sich Limburg unter seinen Händen weiter vom Rest des Landes abzugrenzen begann. Noch bevor er, sich von Nord nach Süd arbeitenden, Vaals erreicht hatte, ergriff ihn eine grenzenlose Begeisterung. Er blickte von der Karte hoch, auf Beertas Rücken. 'Ich glaube doch tatsächlich, dass ich eine Kulturgrenze entdeckt habe', sagte er mit kaum unterdrückter Freude."

    So aufgeregt erlebt man Maarten Koning allerdings selten. Und sehr schnell entweicht die Erregung wie Luft aus einem Ballon. Es bleibt beim Nachhausekommen das mulmige Gefühl, den ganzen Arbeitstag mit Seifenblasen jongliert zu haben.

    "Er stand auf und ging durch das hintere Zimmer in die Küche. In der geöffneten Tür zum Hinterhof blieb er stehen. Es war still. Er fühlte sich ruhelos, leer, als ob das Haus jetzt, da Nicolien nicht da war, keine Kraft mehr hätte. Aufrecht, reglos, die Hände in den Hosentaschen, suchte er Halt in der chaotischen Leere, in der er zu verschwinden drohte, doch er fand nichts."

    Es wird ein paar Weichenstellungen geben, Menschen kommen und gehen, doch es gibt kein Gewitter im Institut, höchstens mal eine schwarze Wolkendecke und Donnergrollen und immer wieder neue kleine Geschichten, die man sich weitererzählt. Das klingt nach wenig, ist aber in seiner Aussparungsrhetorik radikal.

    Ob "Das Büro. Direktor Beerta", wie es in der deutschen Übertragung von Gerd Busse heißt, auch hier Kult wird, bleibt abzuwarten. In seinem angenehm unaufgeregten Ton ist es jedenfalls dazu angetan, eine Art literarischer Lebensalltagsbegleiter zu werden, in dessen Licht man sich vergleichend positionieren kann.

    Johannes Jacobus Voskuil: Das Büro. Direktor Beerta
    Roman. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse
    C.H. Beck Verlag, München 2012
    846 Seiten, 25 Euro