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Eintreten für andere

Bewundert wird bis heute am 1869 geborenen Mahatma Gandhi vor allem sein gewaltloser Widerstand gegen das britische Kolonialregime, mit dem er Indien 1947 ein Jahr vor seinem Tod in die Unabhängigkeit führte. Dieter Conrad weist nach, dass diese Gewaltlosigkeit weder eine reine politische Technik war noch eine schlichte pazifistische Moral. Gewaltlosigkeit als Prinzip gilt der europäischen Philosophie spätestens seit Machiavelli als im Grunde politisch wirkungslos, folglich als unpolitisch.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Gandhi dagegen bedient sich der Gewaltlosigkeit als besonders wirksamer politischer Waffe. Dabei nahmen seine gewaltfreien Aktionen häufig die Form eines freiwilligen Leidens an, wenn er beispielsweise absichtlich gegen ein ungerechtes Gesetz der Kolonialmacht Groß Britannien verstieß, und dafür die Strafe erduldete. Diese Form symbolischer Politik muss sich letztlich auf eine positive Anthropologie berufen. Gandhi glaubte an die Güte und Würde des Menschen.

    Dabei greift er auf die Religion zurück. Während das moderne westliche Staatsdenken Politik und Religion konsequent trennt, insistiert Gandhi auf einer Einheit von Politik und Religion, die angesichts der jüngsten Entwicklungen am Beginn des 21. Jahrhunderts zumindest beachtenswert erscheint, wenn man nach Antworten auf den Fundamentalismus sucht. Gandhi bemerkte sogar:

    "Ich habe mich zusammen mit meinen Freunden darum bemüht, Religion in die Politik einzubringen."
    Indes darf man Gandhi als gläubigen Hindu, der sich auch von seiner ganzer Erscheinung her als religiöser Traditionalist präsentierte, nicht mit den heutigen radikalen Gläubigen verwechseln. Denn zwischen Staat und Religion, wie sie von den Gläubigen konkret gepflegt wird, zieht Gandhi sogar eine deutliche Trennlinie. Was bleibt dann von einer Einheit zwischen beiden? Doch die konkrete Religion der Gläubigen, die sich in vielfältigen individuellen, natürlich auch dogmatischen Formen entfaltet, unterscheidet Gandhi von einer allgemeinen Religion, die sich durch alle konkreten Religionen hindurch zieht. Sie bezeichnet er als Religion der Wahrheit bzw. "als "universellen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit"."

    Diesem Anspruch, der für Gandhi ein religiöser und moralischer zugleich ist, kann sich kein Bereich des Lebens, schon gar nicht die Politik entziehen. Gandhi spricht von der "geordneten moralischen Regierung des Universums", also von einem göttlichen Weltgesetz oder auch von einer moralischen Pflicht. Keine konkrete Religion darf "Vernunft und moralischem Sinn" widersprechen. So gelangt Gandhi zu seiner berühmten Formel:
    "Wahrheit ist Gott!" wie umgekehrt "Gott ist die Wahrheit!"

    Dazu bemerkt Dieter Conrad:

    ""Religion in diesem Sinne bedeutete die ständige Relativierung der von ihr selbst hervorgebrachten, unterschiedlichen Ausprägungen, der Religionen also, vor allem aber die Aufhebung ihrer unvernünftigen Antagonismen."

    Dafür schöpft Gandhi auch einen neuen Begriff Satyagraha, was soviel wie Festhalten an der Wahrheit bedeutet und die Wahrheit mit dem politischen Handeln verbindet, und zwar im Sinne von Gewaltlosigkeit. Denn solche Wahrheit kann man nicht mit Gewalt erreichen. Dagegen trennt man im Abendland Wahrheit und Politik ziemlich konsequent. Mit Begeisterung zitiert Carl Schmitt, der Staatstheoretiker der Nazis, den berühmten Satz von Thomas Hobbes:

    "Auctoritas, non veritas facit legem." (Die Autorität, nicht die Wahrheit verschafft dem Gesetz Geltung.)
    Doch die Wahrheit realisiert sich für Gandhi politisch gerade nicht in der Durchsetzung der eigenen Interessen wie bei Hobbes oder Marx, sondern in der Stellvertretung, im Eintreten für andere. Dabei denkt der Rechtsanwalt Gandhi weniger an patriarchalische Bevormundung, sondern an die Verantwortung, die die Menschen füreinander tragen. Sie dürfen sich nicht nur an hehren moralischen Prinzipien orientieren, sondern auf die Folgen ihrer Handlungen für die anderen achten.

    Politik, die sich gewaltlos auf die Religion der Wahrheit stützt, nimmt also keineswegs passiv fremde Gewalt einfach hin. Sie tritt ihr vielmehr wort- und ideenreich, höchst aktiv entgegen. Wahrheitsliebende Politik und Religion erweisen sich eben als äußerst kommunikativ. Gandhi bemerkt:

    "Mich hat meine Wahrheitsliebe in die Politik gezogen."

    Wahrheit soll Religion wie Politik nämlich mitteilbar werden lassen und verhindern, dass sie sich voneinander abkapseln. Letztlich tritt also die Kommunikation an die Stelle von Gewalt und Krieg, was man im abendländischen Denken eher selten, z.B. bei Hannah Arendt findet.

    Wahrheit schließt Gewalt denn auch nicht prinzipiell aus, sondern sucht sie eher zu vermeiden, macht sie überflüssig, wenn sie beispielsweise den Menschen mit der Welt, mit der Natur verbindet: Man lebt in der Wahrheit, wenn man gemäß der Natur lebt. Für Gandhi drückt sich das in der hinduistischen Kuhverehrung aus. Im Konflikt mit den Moslems, die bis dahin unbehelligt Kühe schlachteten und das billige Fleisch gerade an die ärmsten Hindus der untersten Kasten verkauften, entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts eine radikale hinduistische Kuhschutzbewegung, die auch Gandhi in sein moderates an Gewaltvermeidung orientiertes Politikverständnis einband, wenn er schreibt:

    "Der zentrale Gedanke des Hinduismus ist der Kuhschutz. Für mich ist er einer der wundervollsten Erscheinungen der menschlichen Evolution. Er verknüpft den Menschen mit den anderen Lebewesen. Die Kuh symbolisiert die ganze subhumane Welt. Durch die Kuh wird dem Menschen eingeschärft, seine Gleichheit mit allem, was lebt, zu erkennen."


    Dieter Conrad: "Gandhi und der Begriff des Politischen –
    Staat, Religion und Gewalt", Verlag Wilhelm Fink.