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Eis auf dem Rückzug

Umwelt. - In Wien treffen sich derzeit 7000 europäische Geowissenschaftler zur Generalversammlung der . Dabei schweift der Blick auch in die Ferne: So berichten Forscher, dass die Arktis in weit größerem Maß abnimmt, als bislang angenommen.

    Die Arktis erfährt eine Hungerkur, das zeigen Satellitenbilder eindrücklich: Jedes Jahrzehnt schwindet die eisbedeckte Meeresfläche um bis zu vier Prozent. Zwar klingen solche Zahlen eher mager, doch sie bilden nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges, konstatiert Peter Wadhams von der Universität Cambridge. Das belegten zusätzliche Sonar-Messungen von U-Booten und Treibbojen. "In den letzten 20 Jahren verlor das Meereis der Arktis bereits ein Fünftel seiner Masse. Die Arktis schrumpft nicht nur, sie dünnt überdies auch aus", so Wadhams. Nach seiner düsteren Prognose wird im Jahr 2080 vom arktischen Eispanzer nichts mehr übrig sein, wenn die Schmelze ihr Ausmaß beibehält: "Es gelangen dabei so große Mengen Schmelzwassers in die Ozeane, dass damit der abnehmende Salzgehalt im Meerwasser erklärt werden kann." Der Effekt hat weit reichende Konsequenzen für verschiedene Klimaszenarien, denn bislang wurde dieser Verdünnungseffekt auch den abschmelzenden Gletschern zugeordnet. Der Abfluss dieses kontinentalen Wassers ins Meer würde, so prognostizierten Forscher, den Meeresspiegel ansteigen lassen. Ist der schwindende Salzgehalt jedoch vor allem auf das bereits im Ozean schwimmende Eis der Arktis zurück zu führen, dürfte die Flut wesentlich geringer ausfallen.

    "Wenn das Verdünnen des Meerwassers aber allein auf dem Abschmelzen der nördlichen Polarkappe beruht, bekommen wir ein anderes Problem. Es stellt sich dann die Frage, was mit dem Süßwasser aus den ganz offensichtlich schmelzenden Gletschern an Land geschieht", rätselt der Leiter der Polar Ocean Physics Group an der Abteilung für Angewandte Mathematik und Physik in Cambridge. Eine Lösung wäre ein Speicher, der den Wasserzuwachs aufnimmt, ohne dass der Meeresspiegel ansteigt. Dies könnte der antarktische Eisschild sein, von dem Geophysiker vermuten, dass er im Gegenzug wächst und den Gletscherzufluss kompensiert. Während aber Gewissheit über die eisigen Geschehnisse in den gewaltigen Weiten der Antarktis fehlt, können die Klimawissenschaftler am nördlichen Ende der Welt geradezu zusehen, wie die Umwälzungen ablaufen. In der Grönlandsee etwa liegt einer jener wichtigen Motoren, die mit dem Golfstrom das globale System der Meeresströmungen antreiben. Und eben hier haben sich die Eisverhältnisse grundlegend verändert. Früher wurden im Bereich des so genannten Odden - einer Eiszunge, die im Winter vor der Ostküste Grönlands von kalten Meeresströmungen zusammengetrieben wird - in jedem Winter große Mengen an kaltem Tiefenwasser gebildet.

    Im Odden gefror auf einer Fläche von 50.000 Quadratkilometern Meerwasser zu Eis. Dabei steigt der Salzgehalt im Wasser darunter an, es wird dadurch schwerer und es entstehen große, rotierende Wassersäulen, die nach unten sinken. Diese Kamine besitzen Durchmesser von etwa zehn Kilometern und reichen 2000 bis 3000 Meter tief. In diesen ozeanischen Fahrstühlen sinkt das kalte und salzreiche Wasser von der Oberfläche in die Tiefsee. Doch diese Situation ändere sich drastisch, resümiert Professor Wadhams: "Wir haben entdeckt, dass es vor Grönland nur noch einige alte Kamine gibt, die schon seit Jahren existieren. Aber es bilden sich keine neuen mehr – und das liegt vor allem daran, dass der Odden seit 1997 verschwunden ist." Mit der Zahl an solchen Förderschächten verringert sich auch die Menge an kaltem Salzwasser in der Tiefe. Damit wiederum wird aber die globale Umwälzpumpe der Meeresströmungen abgebremst. Besonders betroffen ist davon der Golfstrom, die Warmwasserheizung Europas. Wird also die Salzwasserpumpe im ehemaligen Odden abgestellt, dann könnte es bei uns durchaus kalt werden, fürchtet Peter Wadhams.

    [Quelle: Dagmar Röhrlich]