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Eisberge am Bodensee

Die Seegfrörene tritt im Schnitt nur alle 100 Jahre ein. Dann friert der komplette Bodensee zu. Dieses Ereignis gibt den Anstoß zu grenzüberschreitenden Begegnungen zwischen der Schweiz und Deutschland und wurde zuletzt vor 50 Jahren mit einer Eisprozession über den See zelebriert.

Von Thomas Wagner |
    Der Bodensee zeigt sich von seiner ungastlichen Seite: Leichter Schneefall, ein eisiger, stürmischer Wind – und dennoch eilen an diesem Samstagvormittag über 100 Fahrgäste, eingemummt in dicken Mänteln, auf das Fahrgastschiff "Zürich".

    "Guten Morgen Guezi miteinand! Wir fahren jetzt von Hagnau nach Altnau."

    Während das mächtige Motorschiff von der deutschen Bodenseegemeinde Hagnau ablegt und Kurs aufs gegenüberliegende Schweizer Ufer nimmt , blicken viele der Gäste aus den beschlagenen Scheiben des Schiffes: Immer noch Schneetreiben, Hochnebel, kleine Eiszäpfchen an der Reling – das ist eigentlich der Stoff, aus dem ein Jahrhundertereignis entsteht:

    "Also das war hochspannend. Das hat ja schon Ende Oktober angefangen. Da wurde es immer kälter – immer gleichbleibend kälter, immer kälter. Und dann hieß es dann immer mehr: Es könnte ja der See zufrieren. Und dann, im Januar, Februar, war’s dann soweit. Ich war damals 13 Jahre. Und dann hat mich mein Vater mitgenommen. Und dann haben wir Würstchen gegessen auf dem See."

    Winfried Böhm erinnert sich so, als ob’s gestern gewesen wäre: damals, als es bitterkalt war, so kalt, dass der Bodensee zugefroren ist – das erste und das einzige Mal im vergangenen Jahrhundert. Die ersten Schritte auf dem Eis – ein spannender Moment:

    "Ganz toll. Und diese ganze große Fläche, was die alles trägt und die Leute da umeinander wuseln. Und zum Teil mit Autos. Und Pferde gab’s ja auch noch. Es war fantastisch. Für mich als Bub war’s natürlich klar: Meine Größe, mein Gewicht würde es tragen. Aber so viele Leute überhaupt – das war enorm."

    Und plötzlich war sie da, damals, die "Seegfrörene", wie die Seealemannen flugs jenen Zustand tauften, der im Schnitt nur alle 100 Jahre eintritt: nämlich das komplette Zufrieren des Bodensees, von Bregenz bis Überlingen, von Konstanz bis Friedrichshafen, von Lindau bis Romanshorn. Viele der älteren Damen und Herren, die mit dem Fahrgastschiff durchs Schneetreiben zum Schweizer Ufer fahren, waren damals, als die große "Seegfrörene" kam, noch jung – und wagemutig. Walter Kress erinnert sich noch daran, wie er mit ein paar Gleichgesinnten Hagnauern am 6. Februar 1963 als einer der Ersten überhaupt den Bodensee überquert hat. Sicherheitshalber zog die Gruppe seinerzeit ein Holzboot auf Schlittenkufen hinter sich her – zum Glück.

    "Und sind wir dann da rüber marschiert und sind dann aber eingebrochen, im Eis eingebrochen, bevor wir’s Land gesehen haben, so zu drei Viertel drüben vielleicht. Am 6. Februar war das. Wir sind da eingebrochen an einer Stelle, die ganz dünn war. Das hat man gesehen, das war voll schwarz. Und 100 Meter Wasser unten dran. Und da sind wir eingebrochen, sind aber glücklicherweise rausgekommen und sind dann so halb rechts auf dem alten Eis weiter marschiert bis ans Ufer."

    Doch schon wenige Tage später, erinnern sich die Zeitzeugen an Bord, war das Eis sicher – und was sich dann ereignete, hätte sich Tage zuvor noch kaum jemand vorstellen können: Der Bodensee wurde zu einer riesigen, viele Hundert Quadratkilometer umfassenden Volksfest-Arena: Musikkapellen auf dem Eis, Würstchenbuden, sogar Autos und kleine Sportflugzeuge. Walter Behrens aus Hagnau lieh sich damals eine Filmkamera aus, um all dies –und noch viel mehr – der Nachwelt zu überliefern.

    "Und das Interessanteste, was ich gefilmt habe, was noch nie jemand gefilmt hat, ist, wie die Eisberge entstehen – das hab‘ ich auf dem Film. Am Ende der Seegfrörene driften Eisschollen, große Eisschollen, über den See, durch den Wind angetrieben. Und wenn die an Land kommen, dann türmen die sich auf, bis auf vier Meter. Und die letzten Aufnahmen habe ich dann von einer Anhöhe aus gemacht, wie die Eisschollen sich hochschieben und dann zerbröckeln. Vor 50 Jahren waren noch mehr Menschen als heute unterwegs über das Eis. Grenzen wurden überschritten."

    Die Fahrgäste sind am Schweizer Ufer ausgestiegen – und haben sich, trotz klirrender Kälte und Schneetreibens, am Bodensee-Ufer der Klostergemeinde Münsterlingen, schräg gegenüber von Hagnau, zusammengefunden. Gemeindeammann Renee Walter begrüßt die vielen Zeitzeugen und Gäste – und betont, was die Seegefrorene bis heute bedeutet: nämlich der Anstoß zu grenzüberschreitenden Begegnungen. Simon Blümcke ist Bürgermeister im deutschen Hagnau und fährt immer mal wieder mit dem Schiff in die benachbarte Schweiz; Hermann Habisreutinger wohnt im Schweizerischen Güttingen und besucht für sein Leben gerne Hagnau.

    "Die Schweiz bietet vor allem einen sehr unberührten Bodensee – einen Bodensee, der nicht so touristisch erschlossen ist wie bei uns, in Hagnau, in Immenstaad, in Meersburg, sondern der ursprünglicher ist – und das hat seinen ganz besonderen Reiz."

    "Hagnau ist ein schönes Dörfchen, in den Reben und so. Von der Bevölkerung wird man gut aufgenommen, immer. Mit einem Fischerboot geht man hinüber und dann…Wein trinken und essen. Das Essen ist natürlich billiger als bei uns."

    Mittlerweile haben Zeitzeugen, Geistliche und Gemeindevertreter einen langen Prozessionszug gebildet. Der führt vom Münsterlinger Bodensee-Ufer hinauf, ins Kloster auf einer kleinen Anhöhe. Vier Männer tragen eine Statue – ein Abbild des Evangelisten Johannes aus dem Jahr 1527. Gemeindeammann Rene Walther:

    "Bei jeder Seegfrörenen wird die herausgeholt und wechselt die Seeseite. Also bei der nächsten Seegfrörenen wird diese Büste dann in einer Prozession nach Hagnau gebracht. Und wartet dann dort allenfalls bis zur nächsten Seegfrörenen, bis sie wieder nach Münsterlingen kommt."

    Die Seegfrörene von 1963 – heute, ein halbes Jahrhundert später, sehen viele Schweizer und Deutsche am Bodensee in dem Jahrhundertereignis eine große Gemeinsamkeit, ein verbindendes Element, das Freundschaften gestiftet und erhalten hat, über Jahrzehnte hinweg. Und auch die Generationen, die die Seegförene nur aus Erzählungen kennen, können dem Geschehen von Einst etwas Faszinierendes abgewinnen. Bruno Liebherr, Anfang 40, ist im Schweizer Landschlacht, Natalie Dube, Anfang 20, im deutschen Immenstaad zuhause:

    "Wenn man die Berichte hört und Berichte liest, wie das zu- und hergegangen ist und wenn man da so 15, 20 Kilometer über das Eis wandern kann, bei Nebel, wo man sich nicht auskennt. Das, denke ich, war speziell."

    "Das beste find‘ ich einfach, mit dem Auto übern See fahren. Ich finde das einfach so richtig cool, einfach so um die Kurven zu driften. Würd‘ ich auch mal gerne machen. Ich würde so etwas schon mal gerne miterleben. Schon cool!"

    Aber eben zukünftig nicht mehr ‚cool‘ genug: Und deshalb ist es fraglich, ob die junge Immenstaaderin jemals zur Zeitzeugin einer zukünftigen Seegfrörenen wird. Der Münsterliner Gemeindeammann Rene Walther spricht empfindet in diesem Zusammenhang …

    "… Wehmut, dass so etwas sehr wahrscheinlich nicht mehr passieren wird. Wegen der Klimaerwärmung wird das eher unwahrscheinlich, werden, dass das wieder geschehen kann."

    "Ein weißer Schwan, sehet den Schwan, seht, hier kommt die Fischereien, auf dem blauen See dahin."

    Tief bewegt kehren die Zeitzeugen Stunden später mit dem Schiff wieder zurück von der Schweiz ans deutsche Bodenseeufer, nach Hagnau. Bei vielen sind 50 Jahre nach der Seegfrörene wieder alte Erinnerungen wach geworden. Mittlerweile hat es aufgehört zu schneien; klirrende kalt ist es trotzdem. Winfried Böhm, der damals als 13-jähriger Junge auf dem Eis auf und ab spazierte, entdeckt auf dieser Fahrt aufs Neue den winterlichen Charme des Bodensees. Und der braucht dafür gar nicht einmal zufrieren.

    "Dann ist da der See vorne noch ein bisschen heller und die Atmosphäre auf dem See dunkler. Eine Mystik strahlt das aus. Und das ist Romantik pur. Die Seele muss auch mal zur Ruhe kommen. Und dieses einheitliche Schneeweiß gleicht auch vieles im Gesicht oder im Augenblick aus, dass man auch einmal zur Ruhe kommt und die Seele baumeln lässt. Und da bietet der See viele Gelegenheiten – an jedem Ort."