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Eisschollen in der Radarfalle:

Raumfahrt. – Am Samstagnachmittag, 17:02 Uhr MESZ, startet vom nordrussischen Weltraumbahnhof Plesetzk der Esa-Satellit Cryosat ins All. Der Flugkörper soll die Veränderung der Eiskappen erfassen:

Von Dirk Lorenzen | 07.10.2005
    Duncan Wingham ist Klimaphysiker am University College in London - was waren seine ersten Erlebnisse mit Eis?

    "Oh, climbing it, very straight forwardly..."

    Schon als Kind sei er einfach auf jede Eisfläche gestiegen, erinnert er sich. Jetzt, etwa vier Jahrzehnte später, wagt sich Duncan Wingham wieder aufs Eis, aber viel professioneller: Mit dem Satelliten Cryosat - von Cryos, dem griechischen Wort für Kälte - will er die Eisgebiete am Nord- und Südpol erforschen.

    "Wir wollen wissen, wie sich das Eis auf der Erde verteilt und bewegt. Nur mit einem Satelliten lässt sich genau messen, wo es wieviel Eis gibt. Ohne Satellit müsste man mit einem Maßband in die Polargebiete reisen und von Hand die Eisdicke messen. Das wäre etwas umständlich. Wir schicken nun einen Satelliten ins All - statt eines Maßbandes nutzen wir ein Radargerät, statt einer Länge messen wir die Laufzeit."
    Das Radargerät sendet stets kurze Impulse nach unten und misst exakt, wann das Echo den Satelliten erreicht. Aus der Laufzeit des Signals bestimmen die Forscher, wie weit das Eis vom Satelliten entfernt ist. So erfahren Duncan Wingham und sein Team auf bis zu zwei Zentimeter genau, wie hoch die Eisschollen aus dem Wasser ragen - mit der Faustregel, dass nur ein Siebtel eines Eisberges über Wasser ist, lässt sich dann die Dicke des Eises bestimmen. Beim Eis auf dem antarktischen Festland geht das nicht. Aber die Cryosat-Messungen zeigen dort immerhin, ob der Eispanzer dicker oder dünner wird. Wingham:

    "Das Eis zu erforschen ist vor allem deshalb wichtig, weil die Menschen dabei sind, das Eis zu zerstören. Wir müssen feststellen, wie schnell das Eis schmilzt. Auch wenn man die Polargebiete für weit entfernt hält: Verändert sich das Eis im arktischen Ozean, dann ändert sich in einer Kettenreaktion schließlich auch der Nordatlantik - und das kann unser Wetter in gemäßigten Breiten wie London, Bonn oder Berlin beeinflussen."

    Der von EADS-Astrium in Friedrichshafen gebaute Cryosat überfliegt einmal in knapp 90 Minuten die Erde auf einer Bahn fast genau über die Pole hinweg. Die präzisen Eismessungen setzen voraus, dass auch die Position des Satelliten im All auf wenige Zentimeter genau bekannt ist. Ins All gelangt Cryosat mit einer Rockot-Rakete - einer Rakete mit einer ganz besonderen Vergangenheit:

    "Die Rockot ist eine konvertierte SS-19, also ehemalige interkontinentale Atomrakete, die durch die Abrüstungsverträge mit den Amerikanern eben abgerüstet und zerstört werden müssen. Wir haben für die Zerstörung einen wirtschaftlicheren Weg gefunden, indem wir eine Oberstufe weiterentwickelt haben. Wir haben jetzt eine dreistufige Rakete, um zwei Tonnen in niedrige Umlaufbahnen zu bringen."

    York Viertel ist Projektmanager bei der Firma Eurockot in Bremen, die die russischen Raketen nutzt. Der Startplatz Plesetsk 800 Kilometer nördlich von Moskau ist der am meisten genutzte Weltraumbahnhof der Welt - fast 2000 Satelliten sind von dort bereits ins All gestartet. Nun kommt mit Cryosat ein weiterer hinzu. Zwar liefert Cryosat den Forschern erstmals konkreten Einblick in die Eisbildung und Eisschmelze in den Polargebieten - doch in bestenfalls fünf Jahren Projektdauer lassen sich langfristige Klimatrends nicht beobachten. Da setzt Duncan Wingham - unter Hinweis auf einen anderen Forschungsbereich - auf die Kreativität der Kollegen:

    "Nachdem man erstmals den Ozongehalt in der Atmosphäre vom All aus gemessen und erkannt hatte, wie wichtig diese Daten sind, gab es plötzlich ganz viele Satelliten, die Ozon messen konnten. Ich bin sehr zuversichtlich, dass bei einem Erfolg von Cryosat früher oder später jemand anderes eine weitere Eis-Mission fliegt."