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Eiszeit-Flötenspieler

Paläoanthropologie. - Auf der Schwäbischen Alb haben Forscher der Universität in der Hohle-Fels-Höhle eine 35.000 Jahre alte Flöte aus einem Gänsegeier-Knochen gefunden. Michael Bolus, Professor am Tübinger Institut für Ur- und Frühgeschichte bewertet die Funde im Gespräch mit Uli Blumenthal.

    Blumenthal: Was wissen wir eigentlich über und von den Menschen, die diese Gegenstände, Venusfiguren, Flöte, hergestellt haben?

    Bolus: Ja, um ganz ehrlich zu sein, so hundertprozentig genau weiß man es nicht, weil es ist ein Zeitraum 35.000 bis 40.000 Jahre, in dem in Europa sowohl anatomisch moderne Menschen als auch noch Neandertaler gelebt haben. Und da wir leider direkt mit diesen Funden bei uns auf der Schwäbischen Alb keine Menschenknochen gefunden haben, hat man den Erzeuger also nicht, wenn man so will, leiblich vor sich. Dennoch gehen wir eigentlich alle davon aus, dass es der anatomisch moderne Mensch gewesen ist. Denn immer, wenn man in Europa derartige Funde, die in der Regel in anderen Fundstellen etwas jünger sind, zugegebenermaßen, mit Menschenknochen vergesellschaftet befindet, ist es eben der anatomisch moderne Mensch. Andererseits hat man bis jetzt noch nie Neandertalerknochen zusammen mit derartigen Funden in ganz Europa entdeckt. Und man muss auch den kulturellen Zusammenhang als Ganzes sehen: es handelt sich um eine Kultur, die in der Fachwelt Aurignacien genannt wird. Und eigentlich immer, wenn man Menschenreste im Aurignacien findet, es sind wenige, zugegebenermaßen, sind es aber anatomisch moderne Menschen. So dass wir eigentlich, wenn wir diese Indizien miteinander kombinieren, ziemlich sicher sind, dass es eben doch der anatomisch moderne Mensch und nicht der Neandertaler war.

    Blumenthal: Wenn Sie diesen Bezug herstellen, woher kamen diese Menschen, die sich dann in dieser Gegend niedergelassen haben, gelebt haben, solche Gegenstände gefertigt haben? Weiß man etwas darüber?

    Bolus: Ja, also die ältesten anatomisch modernen Menschen kommen, nach allem was wir wissen, aus Afrika. Erstmals außerhalb Afrikas begegnen wir ihnen in Israel, vor etwa 90.000 bis 100.000 Jahren. Dann verliert sich aber ihre Spur für eine ganze Zeit. Die ältesten wirklich sicher datierten Knochen moderner Menschen in Europa sind fast 35.000 Jahre alt. Die stammen aus einer rumänischen Höhle. Wenn man das aber mal als Gesamtbild mit den Kulturerscheinungen, die ich eben schon ansprach, verfolgt, spricht vieles dafür, dass also der anatomisch moderne Mensch aus Afrika kommend über die Levante dann weiter nach Europa eingezogen ist. Das kann einerseits über den Balkan passiert sein, wofür solche Menschenknochen sprechen würden, das kann aber unter Umständen auch entlang des nördlichen Schwarzmeer-Bereiches passiert sein. Aber summa summarum muss man sagen, sie sind wohl aus östlicher oder südöstlicher Richtung gekommen und haben in verschiedenen Routen weiter in Europa vorangeschritten. Das kann, wofür unsere Funde auf der Alb sprechen, entlang des so genannten Donau-Korridors passiert sein. Andere Routen entlang des nördlichen Mittelmeer sind vorstellbar, auch dafür gibt es Hinweise in Norditalien und auch in Spanien. Man darf sich das nicht als eine singuläre Ausbreitungswelle vorstellen, sondern es hat sicherlich mehrere auch zeitlich gestaffelte Routen gegeben. Aber östliche, südöstlicher Richtung deutet sich an.

    Blumenthal: Ist diese Kultur in dieses Gebiet gebracht worden, ist sie in dem Gebiet, wo sie jetzt gefunden wurde, also die Flöte und die Venus, entwickelt worden, ist sie möglicherweise nur, in Anführungszeichen, vervollkommnet worden? Lassen die Funde Aussagen zu solchen Fragen zu?

    Bolus: Ja, es ist tatsächlich so, dass also diese Funde in ihrer vollen Ausprägung mit Musikinstrumenten, mit besonders alten Kunstwerken, tatsächlich im Bereich der Schwäbischen Alb meinetwegen, sagen wir, im oberen Donautal auch, bisher am frühesten da sind. Es ist so, der Mensch, der moderne Mensch, der nach Europa gekommen ist, hat einen gewissen Satz an Merkmalen der Modernität mitgebracht: verschiedene moderne Werkzeuge, auch das eine oder andere Schmuckstück, was er zum Teil aus Elfenbein geschnitzt, oder aus Tierzähnen hergestellt hat. Aber tatsächlich Musik und Kunst in dieser Form, wie Sie die auf der Alb finden, finden wir in so frühen Zeiten nirgendwo. Also da scheint wirklich in dem Bereich, in dem wir uns aufhalten, etwas passiert zu sein. Da scheint ein gewisses Innovationspotenzial auch schon vor 35.000 bis 40.000 Jahren da gewesen zu sein.

    Blumenthal: Ist es denn dann gerechtfertigt, Tübingen oder die Alb als Wiege der modernen Kultur zu bezeichnen?

    Bolus: Ja, sagen wir mal, als eine der Wiegen. Wir sind da immer ein bisschen vorsichtig, zu sagen, dass bei uns die einzige Wiege ist. Ich sagte es schon, es gibt diese möglichen Wanderrouten entlang des nördlichen Mittelmeeres. Da haben wir in Norditalien Hinweise, dass dort auch ein solches Zentrum gewesen ist. Es hat sicherlich wenige Zentren in dieser Art gegeben, und die Schwäbische Alb ist sicherlich ein solches und auch ein ganz wichtiges davon.

    Blumenthal: Sowohl die Venus als auch die Flöte jetzt sind sehr plastisch gefertigt, sind sehr filigrane Darstellungen und Anfertigungen, zumal aus verschiedenen Materialien hergestellt, nicht nur aus Holz, sondern aus Knochen, Elfenbein zum Beispiel. Weiß man, wofür das Musikinstrument, die Flöte, gebraucht und benutzt wurde? Für Kulthandlungen, für Gebräuche, für religiöse Handlungen, oder generell, dass man einfach viel Musik gemacht hat?

    Bolus: Ja, fangen wir mit den Musikinstrumenten an: also bis vor einigen Jahren kannte man nur aus dem benachbarten Geissenklösterle, das also um wenige Kilometer vom Hohle Fels entfernt liegt Knochenflöten. Da hat man immer noch gedacht, auch weil man das von anderswo nicht kannte, das ist etwas ganz besonderes und da ist natürlich schnell der Gedanke da, dass das bei Kulthandlungen und vergleichbarem eine Rolle gespielt hat. Nun ist aber so, dass eben vom Hohle Fels jetzt Reste von mittlerweile drei Flöten stammen, am Geissenklösterle sind es auch drei Flöten, und auch bei den Nachgrabungen am Vogelherd, einem anderen Tal der schwäbischen Alb, im Lonetal, hat man inzwischen die Reste von zwei Flöten. Es ist also tatsächlich so, immer wenn man in entsprechenden Schichten mit modernen Methoden herangeht, scheint man fast zwangsläufig auf Musikinstrumente, wie übrigens auch auf plastische Kunstwerke zustoßen. So dass der Gedanke da nahe liegt, dass es doch einen gewissen integraler Bestandteil auch des täglichen Lebens gespielt hat. Tatsache ist auch, dass diese Funde, wenn wir die heute auf den Grabungen finden, oft mit ganz normalem Abfall letztlich zusammen vorkommen. Also nicht in irgendeiner Weise Hinweise auf Deponierung in oder Ähnliches sind. So dass es also offensichtlich schon zum täglichen Leben gehört hat. Andererseits, eine gewisse kultische Note lässt sich dem Ganzen natürlich auch nicht absprechen. Wenn man zum Beispiel diese Venusfiguren sieht, die ja auch immer im Zusammenhang mit Fruchtbarkeit gedeutet werden. Oder auch die Tierfigürchen, die zum Teil Merkmale von Tieren und Menschen tragen, die gerne auch im Zusammenhang mit schamanistischen Praktiken genannt werden. Die Hinweise lassen sich nicht wegdiskutieren. Es scheint tatsächlich so, dass diese Gegenstände in ganz verschiedenen Zusammenhängen eine Rolle gespielt haben, sowohl bei, ja, im weiteren Sinne kultischen Handlungen. Aber auch offensichtlich im ganz normalen täglichen Leben der Menschen um diese Zeit.

    Blumenthal: Die Grube Messel ist so etwas eine Goldgrube, was Fossilien anbetrifft. Ist jetzt sozusagen die Alb, die Gegend um Tübingen, eine Goldgrube, was Kulturgüter aus der Zeit vor etwa 35.000 Jahren anbetrifft?

    Bolus: Ja, ich glaube, das darf man ohne Einschränkung sagen, ja.