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Eiszeiten und Naturkatastrophen

Die Globalisierung, der Klimawandel und die Finanzkrisen scheinen die apokalyptischen Reiter als Avantgarde des Weltuntergangs abgelöst zu haben. Der Autor Ulrich Baron hat dies zum Anlass genommen, die religiösen, politischen und ökologischen Weltuntergangsszenarien auf ihre Ängste und Heilserwartungen hin zu untersuchen.

Von Ulrich Baron | 23.01.2011
    In der letzten Folge unserer dreiteiligen Essay-Serie geht es um das Thema "Eiszeiten und Naturkatastrophen".

    Ulrich Baron ist freier Literaturjournalist, der regelmäßig in der "Zeit" veröffentlicht. In den 1990er-Jahren war er leitender Feuilletonredakteur beim "Rheinischen Merkur" und der Tageszeitung "Die Welt".

    Eiszeiten und Naturkatastrophen
    Von Ulrich Baron

    Seit der Sintflut sind die Menschen nicht müde geworden, sich den nächsten Untergang der Welt auszumalen. Die Wissenschaft hat uns dazu die Abläufe der Erdgeschichte enthüllt, gewaltige Kometeneinschläge und Magmaeruptionen, das Aussterben der Dinosaurier, die Eiszeiten, in denen die Vegetation der Nordhalbkugel von Gletschern geschleift wurde. Noch im Jahre 2004 griff Roland Emmerichs Katastrophenfilm "The Day After Tomorrow" dieses zusätzliche Stück im Kanon der apokalyptischen Plagen auf und zeigte, wie Nordamerika schockgefroren wurde. Doch nach Anbruch des Atomzeitalters waren auch Naturkatastrophen nicht mehr das, was sie einmal waren. Ein Ende unserer Welt erschien nun nicht nur denk-, sondern machbar. Das Spektrum reichte vom Höllenfeuer bis zum Nuclear Winter. Im Jahre 1949 beschrieb Arno Schmidt in "Schwarze Spiegel" den Untergang einer Menschheit, die er nach Jahren als Soldat gründlich satthatte.

    Zehn Jahre später veröffentlichte der zum Katholizismus konvertierte ehemalige US-Luftwaffenpilot Walter M. Miller jr. sein christlich grundiertes Epos "Lobgesang auf Leibowitz", in dem auf einen Atomkrieg ein neues Mittelalter und eine neue Renaissance folgen. Doch ein weiteres Jahrzehnt später schrieb Michael Crichton seinen Technologie-Thriller "The Andromeda Strain", in dem nicht die Atombombe, sondern ein Virus die Menschheit bedroht. Die Seuche zieht sich hier nicht mehr als Schwarzer Tod durch die Städte, sondern wird in einem medizinischen Hochsicherheitstrakt isoliert und zur Strecke gebracht.

    Der Mensch schien in der Lage, die Gewalten der Natur sowohl zu entfesseln als auch zu bändigen, doch im Jahre 1972 wurde plötzlich klar, dass das Ende der Welt auch auf konventionelle Weise kommen könnte. In diesem Jahr veröffentlichte der Club of Rome seine bahnbrechende Studie über "Die Grenzen des Wachstums", und im Jahr darauf wurden die Industriestaaten durch die erste Ölkrise mit solchen Grenzen konfrontiert.

    Zu den Ängsten vor einem Atomkrieg kamen neue und eigentlich alte hinzu. Ängste vor dem Kollaps einer Welt, der die Roh- und Treibstoffe auszugehen drohten, dämpften die menschlichen Allmachtsfantasien. Hatten moderne Vernichtungstechniken die alten Ängste vor Naturkatastrophen, Eis- und Hungerzeiten verdrängt, so kehrten solche Szenarien nun wieder. Schon 1973 zeigte der Film "Soilent Green - die überleben wollen" eine hoffnungslos übervölkerte Erde, deren hungernde Bewohner mit Ersatznahrung am Leben gehalten werden, ohne zu wissen, dass diese nicht aus Plankton, sondern aus Menschenfleisch hergestellt wird. In die Konjunktur von filmischen Endzeitszenarien aber mischten sich auch Ansätze eines Wandels, der dem Naturschutz und dem ökologischen Denken wachsendes politisches Gewicht verlieh.

    Während die einen gegen Kernkraftwerke und Giftmüllverklappungen demonstrierten, schrieben die anderen ihre ersten Computerprogramme, die den Weg in eine neue, virtuelle Welt eröffneten. Doch in die Blütenträume mischten sich Untergangsvisionen. Kurz vor dem Platzen der Dotcom-Blase an den Börsen entwarf 1999 der Film "Matrix" das Bild einer Zukunft, in der die Menschen von intelligenten Maschinen wie Haustiere gehalten werden, während ihnen eine Computersimulation das Leben in der vertrauten Welt vorgaukelt. Schon 1964 hatte der polnische Autor und Philosoph Stanislaw Lem das Konzept einer "Nekrosphäre" entworfen, eines technischen Fortschritts, der sich verselbstständigt und seine biologischen Eltern abgeschafft hat.

    Hier herrscht eine Kälte des Todes, gegen die jede Eiszeit noch anheimelnd wirkt, eine technische Effizienz ohne Moral und Gefühl. Doch noch in der Vorstellung, solch eine eiskalte Welt hervorbringen zu können, liegt ein gewisser Größenwahn, und je größer die Untergangsszenarien werden, die sich die Menschheit ausmalt, desto mehr geht darin unter, dass es gar nicht der Weltuntergang ist, vor dem man sich wirklich fürchtet. Es sind die kleinen, die individuellen Probleme - Sorge um den Arbeitsplatz, um Familie, Gesundheit und unmittelbare Umwelt -, die einen tagtäglich verfolgen.

    Im Jahre 2006 hat dies der amerikanische Schriftsteller Cormac McCarthy in seinem Roman "Die Straße" auf grandiose Weise gezeigt. Vordergründig entwirft er darin das Bild einer Welt, die zu Asche verglüht ist. Ein Vater durchwandert mit seinem kleinen Sohn die apokalyptische Landschaft der USA, in der Städte und Wälder verbrannt und die Reste von Toten in den Asphalt der Straßen eingeschmolzen sind. Kalt ist es hier, und immer wieder drohen die beiden Wanderer marodierenden Horden in die Hände zu fallen. Der Vater aber hat seinen Sohn ein Mantra gelehrt, das da lautet: "Wir sind die Guten. Wir tragen das Feuer." Und dann als Erklärung für die kreatürliche Angst, die beide verfolgt: "Wir essen keine Menschen."

    Man kann dieses kannibalische, wüste Land als eine negative Offenbarung verstehen, als Allegorie einer Welt, in der das Böse gesiegt hat. Doch McCarthy hat seinen Helden ein Requisit mit auf den Weg gegeben, das für den Glanz und das Elend der USA und der westlichen Konsumgesellschaft gleichermaßen steht. Auf ihrem Weg durch die Aschenwelt schieben die beiden ihre Habe in einem Einkaufswagen mit sich, wie man sie in Supermärkten findet. Wer aber mit offenen Augen durch unsere Städte geht, weiß, dass es keines Weltuntergangs bedarf, um aus solchen Wagen Vehikel zu machen, in denen Obdachlose ihren schäbigen Besitz transportieren. Man kann die Vorbilder von McCarthys Helden fast an jeder Straßenecke der Innenstädte sehen, zerlumpte, bisweilen hilflos um Sauberkeit bemühte Gestalten, und das Gespenstische, das Skandalöse daran ist, dass die Welt, aus der sie gefallen sind, noch gar nicht untergegangen ist, sondern Business as usual betreibt.

    McCarthy zeigt die USA, die sich als "God's own country", als Gelobtes Land bezeichnen, aus einer Perspektive, die deren infernalische, barbarische und kannibalische Züge durch Überzeichnung enthüllt. Der Mensch ist hier des Menschen Wolf, und mitten im reichsten Land der Welt finden die Naturgewalten Hunger und Kälte wieder ihre Opfer. Doch lässt man die Erfolgsgeschichte des Westens Revue passieren, so verwundert das nicht. Schon Georg Christoph Lichtenberg kehrte im 18. Jahrhundert die gewohnte Entdeckerperspektive um und konstatierte: "Der Amerikaner, der den Columbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung". Das Unglück der Amerikaner wollte es, dass die Neuankömmlinge durch eine harte Schule gegangen waren. Lange bevor sich das Abendland zur Weltmacht aufschwang, waren die Christen eine kleine Minderheit im übermächtigen Römischen Reich gewesen. Ihr Erlöser war ans Kreuz geschlagen, viele Gläubige waren zu Märtyrern geworden.

    Die Völkerwanderung, das Vordringen muslimischer Heere und asiatischer Reiterarmeen zählten zu den Traumata der Europäer ebenso wie die Entvölkerung ganzer Landstriche durch die Pest und das Versinken reicher Küstenregionen in den Sturmfluten des späten Mittelalters. Doch im 15. Jahrhundert begann das Blatt, sich zu wenden. Nach dem Ende der Maurenherrschaft in Spanien wurden die Helden der Reconquista zu den Konquistadoren Lateinamerikas. Die Reiche der Maya und Azteken wurden zerschlagen, und wo sich keine arbeitswilligen und arbeitsfähigen Eingeborenen mehr fanden, wurden sie durch afrikanische Sklaven ersetzt.

    In Kolumbus entdeckte Lichtenbergs Amerikaner einen Vorboten des Untergangs seiner Welt. Zwischen vom Menschen verursachten und Naturkatastrophen ließ sich dabei kaum mehr unterscheiden. Die Eroberer kamen nicht nur mit eisernen Schwertern, Musketen, Kanonen und Bluthunden. Mit ihnen hielten in Amerika auch die Seuchen Europas Einzug, gegen die das Immunsystem der Eingeborenen nicht gewappnet war. Tödliche Epidemien entvölkerten die Karibik und drangen über die Küstenregionen ins Binnenland vor. Noch als die Pilgerväter Anfang des 17. Jahrhunderts nach Neuengland kamen, bot sich dort "ein sehr trauriger Anblick" - entvölkerte Orte, in denen noch die unbestatteten Schädel und Gebeine zahlloser Seuchenopfer umherlagen.

    Angesichts des Geruchs von Blut und Verwesung, der das Vordringen der europäischen Eroberer begleitet hat, erscheint es fast unglaublich, dass ihre Vorboten immer wieder meinten, sie hätten den Weg ins Paradies gefunden.

    "Ein Morgen war's, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O-Tahiti zwei Meilen vor uns sahen. Der Ostwind, unser bisheriger Begleiter, hatte sich gelegt; ein vom Land wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherlei majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne."

    Mit solchen Szenen aus dem Bericht über seine Reise auf Captain Cooks Schiff "Resolution" hat Georg Forster nicht nur Generationen von Forschern inspiriert, sondern auch Träume von fernen Inselparadiesen. Über drei Jahre hinweg, von England bis in die Antarktis, vom Eismeer über Neuseeland bis nach Tahiti und zur Osterinsel hatten der junge Georg und sein Vater den Entdecker als Wissenschaftler und Chronisten begleitet, hatten die Welt noch einmal so gesehen, wie sie nach ihnen bald nicht mehr sein würde.

    In der neuseeländischen Dusky-Bay hätten die Eingeborenen bei ihrem Eintreffen zunächst ein "fürchterliches Geschrei" erhoben, aber dann habe eine Frau mit einem "weißen Vogelfell" gewinkt, was Forster als "Zeichen des Friedens und der Freundschaft" erschien. Das Winken erschien ihm fast wie ein Gruß aus paradiesischen Zeiten und ließ ihn über den Symbolcharakter der weißen Farbe sinnieren:

    "Es war mir bei dieser Gelegenheit besonders auffallend, dass auch diese Nation, gleich wie fast alle Völker der Erden, als hätten sie es abgeredet, die weiße Farbe oder grüne Zweige für Zeichen des Friedens ansieht, und dass sie, mit einem oder dem andern versehen, dem Fremden getrost entgegen gehen. Eine so durchgängige Übereinstimmung muss gleichsam noch vor der allgemeinen Zerstreuung des menschlichen Geschlechts getroffen worden sein, wenigstens sieht es einer Verabredung sehr ähnlich, denn an und für sich haben weder die weiße Farbe, noch grüne Zweige eine selbstständige unmittelbare Beziehung auf den Begriff vom Freundschaft."

    Hier scheint noch einmal die Vorstellung vom Garten Eden auf, von einer freundlichen Natur, die keine Katastrophen, von einer sündlosen Menschheit, die keine Gewalt kennt. Forsters Beschwörung eines paradiesischen Urzustandes aber wird durch seine weiteren Reiseerlebnisse konterkariert. Als auf Neuseeland ein Lagerplatz freigeschlagen wird, zeigt sich der Chronist beeindruckt:

    "In wenigen Tagen hatte eine geringe Anzahl von unseren Leuten das Holz von mehr als einem Morgen Landes weggeschafft, welches fünfzig Neuseeländer, mit ihren steinernen Werkzeugen, in drei Monaten nicht würden zustande gebracht haben."

    Stellvertretend für den Prozess der Zivilisation steht hier die Kultivierung eines Fleckchens neuseeländischer Erde, bei der aller Wildwuchs radikal beseitigt wird. Georg Forster beschreibt ein Stückchen Urwald, der uns heute als schützenswertes Biotop erscheinen würde. Doch für ihn hatte dieses anscheinend sich selbst überlassene Werden und Vergehen keinen Wert. War er doch in einer Zivilisation aufgewachsen, die zwar schon das Prinzip der Nachhaltigkeit entdeckt hatte - aber als Grundlage einer Bewirtschaftung der Natur, die aus wilden Wäldern geordnete Forste machte. Die Welt wollte nicht nur entdeckt, sie sollte auch in Ordnung gebracht werden, in europäische Ordnung. So begann in Neuseeland das große Roden:

    Der junge Forster hatte auf seinem Segelschiff die Übermacht der Natur so heftig zu spüren bekommen, dass sein Wunsch nach etwas Ordnung verständlich ist. Selbst für den feinsinnigen und hellsichtigen Naturkundler erschien die Natur als großes Ressourcenreservoir, auch wenn er schon ahnte, dass es nicht unerschöpflich sein werde. Angesichts des Reichtums der Südhalbkugel an Walen und Robben empfahl er:

    "Sollten die Walfische des nördlichen Eismeeres vermittels unserer jährlichen Fischereien jemals ganz ausgerottet werden, so würde es Zeit sein, dergleichen in der andern Halbkugel, wo sie bekanntermaßen häufig sind, aufzusuchen."

    Aus den Menschen des Abendlandes, die über anderthalb Jahrtausende hinweg eine apokalyptische Weltwende teils gefürchtet, teils herbeigesehnt hatten, waren nun deren Vollstrecker geworden. Sie nahmen es auf sich, andere Völker ins Gelobte Land der Zivilisation zu führen, sofern sie ihnen nicht vorher unter den Händen wegstarben.

    Welches Ausmaß und welche Geschwindigkeit dieser Prozess bald annehmen würde, konnte Forster nicht voraussehen. Von Dampfmaschinen und Dampfschiffen, von Lokomotiven und Elektrizität wusste er so wenig wie von Bombenkrieg und Giftmülldeponien. Im Eismeer hatte ihn freilich schon eine Vorahnung überfallen. Jene "düstere Traurigkeit, welche unter dem antarktischen Himmel herrscht, wo wir oft ganze Wochen lang in undurchdringliche Nebel verhüllt zubringen mussten", mag seine melancholische Vision beflügelt haben. In scheinbar ewiger Dämmerung, von gespenstischen Vögeln umflogen zählten Cooks Männer 168 Eisinseln, von denen selbst die kleinsten größer waren als ihr Schiff. Und Forster notierte:

    "Dies stellte einen großen und fürchterlichen Anblick dar. Es schien, als ob wir die Trümmer einer zerstörten Welt, oder, nach den Beschreibungen der Dichter gewisse Gegenden der Hölle vor uns sähen, eine Ähnlichkeit, die um so mehr auffiel, weil von allen Seiten ein unablässiges Fluchen und Schwören um uns her tönte."

    Forsters Vision von den Trümmern einer zerstörten Welt, die im Eismeer treiben, nimmt Visionen vom Weltende vorweg, wie sie ein H. G. Wells in seinem Roman "Die Zeitmaschine" und wie sie die Physik im Bild vom Kältetod des Universums entworfen hat. Und sie erinnert heute auch an das Schicksal jener Wikingerkolonie auf Grönland, die während des mittelalterlichen Klimaoptimums gegründet wurde, um dann im Laufe einer neuerlichen Abkühlung elend unterzugehen. Aber Forster steht hier auch in der Tradition maritimer Untergangsszenarien, die sich um Schiffbrüche rankten. Auf den Weiten des Ozeans war jedes Schiff eine kleine Welt, und jedes Schiffsunglück war ein kleiner, sinnbildlicher Weltuntergang.

    Gegen die Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts sprach dann ein Bild, das Théodore Géricault 1819 für die Ausstellung im Pariser Salon einreichte: "Das Floß der Medusa" griff den Untergang einer französischen Fregatte auf und zeigt deren dem Wahn, dem Hungertod und dem Kannibalismus verfallene Besatzung. Géricault malte die mit dem grausamen Meer ringenden Männer als athletische Kämpfer, die sehr wenig mit jenen gespenstischen Gestalten zu tun haben, in die sich die Überlebenden wirklicher Schiffbrüche verwandelt hatten. Umso stärker aber wirkte die Dramatik des Geschehens, die dem Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts ein Bild des Scheiterns und der Not entgegensetzte.

    Es ist wohl kein Zufall, dass der große Aufbruch der Europäer zur Erschließung auch noch der fernsten und lebensfeindlichsten Regionen der Erde von solchen Visionen des Untergangs begleitet wurde. Mit dem Aufwand stiegen die Risiken, und mit der Zahl der Passagiere wuchs auch die Zahl der möglichen Opfer. Als Géricault sein Floß malte, hatte Thomas Robert Malthus schon sein "Bevölkerungsgesetz" formuliert, nach dem die Zahl der Menschen bald unweigerlich schneller steigen würde als der Zuwachs an Nahrung. Zwar hatte Malthus die Potenziale industrieller Landwirtschaft weit unterschätzt, doch die Explosion der Weltbevölkerung hat inzwischen stattgefunden. Géricaults Floß wurde zum Gegenbild von Noahs Arche. Aus der rettenden Arche ist ein Ort der Verzweiflung geworden. Das Floß ist zugleich voll und leer, denn es fehlt seiner Besatzung fast an allem, was zum Leben notwendig ist. Die Zeit ist nah, wo sie beginnen werden, einander zu verzehren.

    Das 19. Jahrhundert erlebte viele solcher Hungertragödien. Im 20. Jahrhundert haben dann Stalin und Mao Millionen von Menschen ermorden lassen, indem sie den Hunger gegen die eigene Bevölkerung einsetzten. Eine Kartoffelkrankheit hat 1845/46 eine Million Iren das Leben gekostet, und noch viel verheerender wirkte sich in den Jahren 1876 bis 1879 das Ausbleiben der Monsunregen in Asien aus. Schätzungen gehen davon aus, dass wegen der Ernteausfälle allein in China und Indien unter den Augen europäischer Kolonialherren über 20 Millionen Menschen verhungert sind. In seinem Buch "Late Victorian Holocausts" beschreibt der amerikanische Journalist Mike Davis, wie mittels solcher Naturkatastrophen die "Dritte Welt" geschaffen worden sei, denn als die Menschen in Indien verhungerten, stand dort der Handel mit Getreide unter britischer Kontrolle. Doch im Vaterland des liberalen Denkens wurde entschieden, dass man die Beseitigung des Hungers lieber dem Markt überlassen sollte, was auf den Tod der Hungernden bei weiterem Nahrungsexport nach Europa hinauslief.

    Im Westen gewöhnte man sich im 19. Jahrhundert daran, dass in der "Dritten Welt" gehungert und verhungert wurde, und dass sie nichts mit jener besseren Welt gemein hatte, auf die sich einst apokalyptische Hoffnungen gerichtet hatten. Aus dem Himmel auf Erden, als den sich die Apokalyptiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit die ihnen verheißene "Dritte Welt" vorgestellt hatten, war das Synonym für ein riesiges Armenhaus geworden - ein Schauplatz für künftige Stellvertreterkriege und für die Müllexporte der Industrieländer und zugleich deren Rohstofflager.

    So gerieten jene Dürrejahre in Asien wieder in Vergessenheit, aber heute muten sie wie ein Vorgeschmack auf eine globale Klimakatastrophe an. Ursache des Wassermangels war ein Phänomen, das wegen seines Auftretens zur Weihnachtszeit El Niño, das Christkind, getauft wurde. Dabei handelt es sich um Änderungen im ozeanisch-meteorologischen Strömungssystem des äquatorialen Pazifiks, die das Wetter auf großen Teilen der Erde beeinflussen. An der südamerikanischen Westküste kommt es zu sintflutartigen Regenfällen, in Südostasien und Australien bleibt der Regen aus, und vor der peruanischen Küste verschwinden die gewaltigen Planktonschwärme, die sonst für den Fischreichtum dieser Region sorgen. Dieses Christkind hinterlässt einen leeren Gabentisch, aber lange Zeit war es zu exotisch, um in Europa wahrgenommen zu werden.

    Nur der anarchistische Schriftsteller und Ex-Matrose Theodor Plievier hat das Wüten El Niños schon in den 1920er Jahren beschrieben und seinen Namen zum Titel einer Erzählung gemacht. Es passte zu seinem apokalyptischen Weltbild, in dem Kapitalismus und Sozialismus sich in gemeinsamer Agonie aufheben würden. Während die Fluten El Niños eine lateinamerikanische Stadt verheeren und sich die Menschen in "Meuten hungernder Tiere" verwandeln, bricht aus dem Wüstensand anarchisch wucherndes Leben hervor:

    "Wo vorher Wüste war mit sandgrauen Flächen, Geröllfeldern, Schotterhalden, wo schauerlich kahle Steinwände und nackte Felsenpiks in der Sonne badeten und nicht eine Spur von Vegetation war, wogen mannshohe Gräser, hängen saftgrüne Matten, breiten sich üppige Polster tropischer Blumen aus. Heiße, brennende Farben, wohin das Auge hinblickt! Wogen wilder leuchtender Blüten schütten sich bis an die Gestade des Ozeans aus.

    Aber die jäh aus dem Boden gestiegene Schöpfung dampft noch von Blut. Mitten in diesem Pandämonium geiler, rauschender Kräfte steht die zerbrochene Stadt."


    Die neue Schöpfung geht hier aus einem blutigen Geburtsakt hervor, der die Behausungen der Menschen wie eine Eierschale zermalmt. Für Plievier konnte eine weltumwälzende Offenbarung nur aus den Kräften der Natur hervorbrechen, die auch im Menschen selbst wirksam waren und ihn zur Revolte gegen Staaten und Kirchen drängten. Anders als der Aufklärer Georg Forster feierte er nicht die freigeschlagene Lichtung, sondern den Urwald, der sie zurückeroberte. Gerade in der Katastrophe zeigte sich ihm die Natur, wie sie wirklich war, offenbarte dabei jene Kräfte, von denen sich der Anarchist eine große Weltwende erhoffte.
    Forster wie Plievier aber irrten sich. Die Pflanzen Neuseelands waren keineswegs so wild und sich selbst überlassen, wie der Forscher annahm. Und die Natur ist nicht so revolutionär, wie der anarchistische Schriftsteller hoffte. Pflanzen stehen in engster Wechselwirkung mit ihrer Umwelt und in beständiger Konkurrenz untereinander, doch ihr Kampf ums Dasein kennt keine anderen Ziele als ein Fortbestehen als Individuum und Art. Das Leben insgesamt hat sich stets opportunistisch verhalten, hat das Land und die Luft dadurch ebenso erobert wie Berggipfel und Tiefsee. Dabei hat es sich entwickelt und seine Umwelt ebenso, doch diese Entwicklung mündet in keinen stabilen Zustand.

    In Eiszeiten verschwanden ganze Wälder und mit ihnen zahllose Pflanzenarten unter Gletschern. Seen verlanden, und gestaute Bachläufe überfluten Täler. Schwemm- und Flugsand lassen Düneninseln entstehen. Sturmfluten reißen sie erneut ins Meer. Die Natur ist kein Paradies, in das der Mensch gewaltsam eingegriffen hat. Und wenn er aus einer von ihm geschaffenen Kulturlandschaft verschwindet, gewinnt sie Terrain zurück. Aufgelassene Straßen brechen auf, Häuser verfallen, Felder werden überwachsen. Das ist keine Katastrophe. Das ist einfach so.

    Nur der Mensch hat versucht, in solchen Prozessen mehr zu sehen, als es darin zu sehen gibt - einen Sinn, einen Plan, ein Ziel. Und das selbst da und gerade da, wo die Natur sich gegen ihn zu richten scheint. Je besser und schneller wir über das Geschehen in aller Welt unterrichtet werden, desto stärker nämlich wird der Eindruck, dass sich solche Katastrophen häufen. Das ist sogar wahrscheinlich, aber es wäre unsinnig anzunehmen, die geschundene Natur schlüge damit zurück. Wir messen Naturkatastrophen an der Zahl menschlicher Opfer, und je mehr Menschen an Vulkanhängen, in Wintersportgebieten und in wasserarmen Regionen leben, desto größer wird die Zahl potenzieller Opfer, die zu Katastrophenmeldungen Anlass geben könnten. Und je mehr diese Menschen miteinander kommunizieren, desto näher kommen uns solche Katastrophen.

    Im Global Village passiert heute alles in unserer Nachbarschaft, und alles ist Umwelt. Der Nachbar von gegenüber kommt bei einem Tsunami in Südostasien um. In Europa sterben Jugendliche an Rauschgift, das am Hindukusch geerntet wurde. Alles ist Teil eines immer weiter zusammengewachsenen Geflechtes. So gibt es kaum ein Risiko mehr, das nicht auch uns direkt oder indirekt betrifft, keine Gefahr, die nicht auch uns bedrohlich erscheint. Der Historiker François Walter spricht deshalb von einer "Hochkonjunktur des Alarmismus", die sich selbst verstärke, weil das Warnen, Mahnen, die Risikovorsorge und die Gefahrenabwehr längst zu einem Geschäft geworden seien:

    "Man schwankt unablässig zwischen Risiko und Gefahr, wobei Ersteres vorhersehbar und quantifizierbar ist, und das Zweite, weniger durchsichtig, einer ökonomischen Ausbeutung das Feld bereitet. Wie der Soziologe Ulrich Beck schreibt, ist die Risikoforschung wie ein Bazillus, der von der Risikoforschung gespeist wird, die sich immer weiter in Richtung Unsicherheit ausdehnt, für deren Begrenzung sie eigentlich zuständig sein sollte."

    In ständiger Vorsorge befangen, droht der Mensch sich zu verlieren. Ständig mit fernen und drohenden Katastrophen beschäftigt, schwindet sein Sinn für das alltägliche Unglück um ihn herum. Nicht nur Killerspiele stumpfen ab, sondern auch Katastrophenberichte. Hier droht Melancholie, droht jene Erkaltung, jene Trägheit des Herzens, die das Mittelalter zu den Todsünden zählte. Angesichts der neuen Unübersichtlichkeit, angesichts der zunehmenden Kälte unserer Gesellschaft scheinen sich die Menschen nach einem großen Generalthema zu sehnen, mit dem sich die Zukunft gemeinsam bewältigen ließe. Nach Rot, Schwarz und Gelb hat in der Politik plötzlich wieder Grün die größten Zuwächse.

    Doch hier geht es eher um Versöhnung als um apokalyptische Eskalation. Trotz aller Katastrophenszenarien ist uns eine neue Offenbarung ferner denn je und damit auch die Hoffnung auf eine religiöse, soziale, politische oder ökologische Erlösung. Zwar hat die Klimadebatte neuerlich Weltuntergangsängste beschworen, Gläubige von Ungläubigen geschieden und einen modernen Ablasshandel mit Emissionsrechten in Gang gesetzt. Zwar kursieren wie zu Zeiten der Glaubensspaltung zahllose Traktate, die verkünden, wie man vom Klimasünder zum Klimaengel werden könne. Zwar werden Skeptiker als Irrgläubige denunziert und seriöse Mahner als korrupte Karrieristen, aber die rechte apokalyptische Stimmung mag sich nicht einstellen.

    Den Ausbruch eines Vulkans auf Island wollte man unlängst keineswegs als bedrohliches Vorzeichen gedeutet wissen, sondern freute sich über ein paar Tage ohne Fluglärm. Selbst dramatische Warnungen vor dem Klimawandel ließen die allgemeine Stimmung nicht eskalieren, weil es zwar höchste Zeit zum Handeln sein sollte, aber die Zeit des Wandels noch nicht absehbar schien. Die Voraussagen steigender Temperaturen und Wasserstände bezogen sich auf Zeiträume, die die meisten Menschen nicht mehr oder nur noch zum Teil erleben würden. Ausdrücke wie "Klimawandel" und "Erderwärmung" erweckten zudem den Eindruck eines langsam voranschreitenden Prozesses und nicht den einer jähen Weltwende. Zudem leben wir noch immer in der Vorstellung, es gebe für uns noch eine "Dritte Welt", in der sich Armut und Naturkatastrophen konzentrieren und auslagern ließen.

    Man will nicht wahrhaben, dass die Armut, der Hunger, die Kälte und sinkende Lebenserwartungen längst auch im Westen wieder Einzug gehalten haben. Man möchte sich den Frieden, den man mit der Welt und der Natur gemacht zu haben glaubt, nicht durch apokalyptische Mahner stören lassen. Aber die Grenzen des Wachstums werden längst nicht mehr allein von Naturschützern beschworen, sondern auch von Ökonomen und Sozialwissenschaftlern. "Und jetzt der Schock: Es gibt kein ,mehr'. Weder Geld noch Wachstum", schreibt Meinhard Miegel in einem Buch, das immerhin "Wohlstand ohne Wachstum" verheißt. Doch der Schock verpufft, denn an Katastrophenmeldungen ist man inzwischen gewöhnt.

    So spart man Energie, reduziert Emissionen, macht seine Geschäfte mit Wind- und Solarenergie, plant einen klimaneutralen Urlaub auf den Malediven. Man hat ein gutes Gewissen, weil man ja tut, was man kann, und schaut weg, wenn die abgerissenen Leute mit den Einkaufswagen vorüberziehen. Nur manchmal wundert man sich über jenes leise Kältegefühl, das man in seinem Inneren verspürt. Das scheint von draußen zu kommen, von der Straße, die in unsere Zukunft führt.