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Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung

"Für mich lag ein großer Reiz darin, daß auf dem Ekel lange Zeit eine gewisse Art von Denkverbot geruht hat, und faktisch kann man das in der sehr kurzen Bibliographie ja auch wiederfinden. Andererseits haben die Autoren, die darüber nachgedacht und dieses Denkverbot überwunden haben, phänomenale Formulierungen gefunden. Ich habe erlebt, daß ich beim Studium dieser Texte regelmäßig in lautes Lachen ausgebrochen bin, weil einfach eine solche zupackende Formulierungskraft da drin steckt, die diesem Verbotenen abgewonnen ist. Insofern war das ganze für mich auch ein enorm literarischer Reiz, der hat das mit angetrieben."

Kleinspehn Thomas | 01.01.1980
    So freut sich jemand über etwas ganz und gar Widerliches: den Ekel. Der Berliner Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus hat sich über Jahre mit dem Ekeligen in der Literatur beschäftigt und seine Ergebnisse nun in einem umfangreichen Buch zusammengetragen. Daß es Spaß machen kann, sich mit dem Widerwärtigen zu beschäftigen, führt mitten in das Thema hinein. Denn die Frage nach dem Ekel, wie sie Menninghaus liest, erweist sich als Kehrseite einer Theorie der Ästhetik und des Schönen. Historisch betrachtet sind beides nicht von vornherein Gegensätze. Schon die Antike kennt auch die Lust am Ekelhaften. Selbst im moralisch-strengen 18. Jahrhundert haben die gleichen Autoren, die sich mit ästhetischen Zusammenhängen befaßten, auch einen Diskurs über den Ekel geführt.

    "Beides", so Menninghaus, "steht in einem direkten Begründungszusammenhang, und so war natürlich der Verdacht gegeben, daß das ausgeschlossene der Ästhetik in der Gründungsphase eine interessante Geschichte erfährt. Also dasjenige, was zunächst draußen vor geblieben ist, wandert dann ins System der Ästhetik ein und zwar so sehr und so erfolgreich, daß wir heute in der Kunstszene ja überall mit den Phänomenen des Exkrements, der Leiche und solchen Dingen konfrontiert sind, die wir üblicherweise als ekelhaft bezeichnen. Die Ästhetik ist nämlich bis zur Erfindung der Psychoanalyse und der Soziologie das höchst-entwickelte Wissen von den negativen Empfindungen. Die Ästhetik ist speziell im 18. Jahrhundert die komplexe Lehre davon, wie unangenehme Empfindungen durch die Kunst in angenehme verwandelt werden können."

    Gleichzeitig ist die Ästhetik aus der Sicht von Menninghaus auch die Theorie zur Vermeidung von Sättigung. Kunst muß immer noch einen Schritt weitergehen können und dennoch den ekelhaften Überdruß verhindern. Der Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin legt sein Augenmerk vor allem auf den Wandel im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Hier dient die Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Ekel zunächst dem moralischen Urteil. Der ästhetische Diskurs etwa bei Kant formuliert sehr genau die normativen Grundlagen für das Schöne. Das betrifft in erster Linie den Körper, der in den Idealen der Philosophie kaum noch etwas "Natürliches" enthalten soll. Vielmehr stellt man sich ihn als straffen, athletischen, jugendlichen und dynamischen Körper vor, dessen glatte Haut das Tierische im Inneren verdeckt. Die Ausscheidungen und Ausdünstungen, ja die Körperöffnungen selbst werden ignoriert. Alles was diesem Bild widerspricht, gilt als ekelig und wird ausgegrenzt - eine verblüffende Parallele zu den Models, Athleten und Barbiepuppen unserer Tage mit dem Traum von der ewigen Jugend und der Omnipotenz im Cyberspace. Doch Menninghaus interessiert sich nicht hauptsächlich für den sauberen und ekelfreien Diskurs, sondern richtet seinen Blick gerade auf jene Theorien, die sich mit dem Verdrängten auseinandersetzen. In der Romantik u.a. bei E.T.A. Hoffmann, Tieck und Schlegel oder schließlich bei Baudelaire findet er hinter dem Ekel die verborgenen körperlichen Leidenschaften wieder:

    "Das späte 18. Jahrhundert und das 19. noch viel mehr entdecken nun erstmals sowohl die Kosten dieses Prozesses als auch die verbotenen Reize des Ekelhaften. Das ein machtvoller Prozeß, der im 19. Jahrhundert vielleicht am stärksten in der Philosophie Friedrich Nietzsches zum Ausdruck gebracht wird. Nietzsche hat dann eine moderne Bergpredigt formuliert, die ich ganz wunderbar finde, wo er sagt: "und so ihr nicht werdet für die Kühe und lernt das eine nicht, das Wiederkäuen, so werdet ihr nicht selig." Und das Wiederkäuen ist das Bild für Wiederverdauen des beinahe Erbrochenen, für Nietzsches Wiederholung, für das Ja-Sagen zu dem, was man gelebt und getan hat. Und eigentlich mit dieser obskuren Figur beginnt eine Anstrengung des modernen Denkens, der sich beinahe alle großen Geister angeschlossen haben. Von Freud, über Bataille, Kafka, Benjamin bis Kristeva und zu heutigen Autoren scheint es entscheidend zu sein für das Verstehen der kulturellen Phänomene im weitesten Sinne, daß es eine Art von Antagonismus gibt zwischen der unvermeidlichen Verekelung bestimmter Lüste und bestimmter materieller Dimensionen des Daseins und dem Versuch diese zurückzuerobern."

    Aus dieser Perspektive wird die Studie unter der Hand zur Kulturkritik, zum Versuch, das wieder auszugraben, was die westliche Zivilisation verdrängt hat. Besonders an der Ästhetik Franz Kafkas macht er die hinter den Insekten, Würmern und anderen Tieren sowie den häßlichen Frauenkörpern verborgene Angst vor Sexualität deutlich. Kafkas sublimes Schreiben über den Ekel stellt den Versuch dar, das Lebendige wiederzufinden. Hier arbeitet Menninghaus mit Freuds Theorie von der Wiederkehr des Verdrängten und versucht sie, zu einer allgemeinen Theorie der Kultur zu erweitern. Der Mensch - so Freud - wendet sich im Zuge der Zivilisation mit dem aufrechten Gang immer mehr von den niederen Trieben, von der Lust am Schnüffeln und Schmecken ab. Trotz des Ekels vor dem Niederen bleibe jedoch immer noch ein Rest, eine Spur der Erinnerung: "Wenn ich", kommentiert Menninghaus "eine darüber hinausgehende These zur heutigen Zeit aufstellen sollte, würde ich mich anlehnen an bestimmte Beschreibungen, die in der Linie von Lacan und Kristeva gegeben worden sind. Beispielsweise die Frage, warum wird unsere Kultur so permissiv fürs Ekelhafte. Man kann es auch so ausdrücken: die Verbotsdimension wird genuin geschwächt... Bataille war ein Autor, der... gesagt hat, wenn die Verbotsdimension geschwächt wird, wird auch die Lust geschwächt. Ein Verdacht wäre es, daß dieses freie Flottieren der ekelhaften Phänomene, auch der kommerzielle Erfolg, und die Distanzlosigkeit mit der man sich darauf einlassen kann, damit auch zu tun hat, daß die Verbotsschranken weg sind. Die Gefahr ist natürlich auch, daß diese Lust am Ekelhaften auch immer schaler wird.

    Diesen Schritt in die Gegenwart zu einer Kultur, in der alles möglich scheint, in der auf dem Medien-Markt auch das Abstoßenste vermarktet werden kann, wagt Winfried Menninghaus allerdings nur im Interview. Sein Buch versteht er dagegen nicht als Zeitdiagnose. Hier ist sein Ziel zunächst nur die Rekonstruktion einer verschütteten Theorie des Ekels. Dafür ist die Arbeit zweifellos richtungsweisend und wertvoll. Gelegentlich hätte man sich jedoch auch mutigere Schritte zur Analyse der populären Kultur, des Niederen, auch der Sexualität und des Sadomasochismus z.B. gewünscht, wo Ekel und die Ideale des Schönen eng beieinander liegen - zum verwechseln ähnlich, da sie uns beide tagtäglich von den visuellen Medien zum Konsum dargeboten werden - bis zum Überdruß. Wenn der Ekel jedoch nicht mehr provoziert, müßte Menninghausens "Theorie einer starken Empfindung" eigentlich noch weitergeschrieben werden.