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Elegante Imitation der Wirklichkeit

Das Buch ist tot, es lebe das Kindle! Die Zeitung ist tot, es lebe der iPad! Papier war gestern, Pixel sind heute und übermorgen. Weshalb also kommt jemand auf die Idee, einen Roman über ein Druck-Erzeugnis zu verfassen, das die Kids des 21. Jahrhunderts nur noch als vergilbtes Stopfmaterial aus Kisten mit Weihnachtsschmuck kennen?

Von Sacha Verna | 22.10.2010
    Vierhundert gebundene Seiten über das Schicksal eines internationalen Blattes und dessen Mitarbeiter? Genau das hat Tom Rachman getan.

    Das Debüt des jungen Briten handelt von einem Berufsstand, der in seiner bis anhin bekannten Form vom Aussterben bedroht ist, und von einem Medium, für das dasselbe gilt.

    Die Zeitung im Mittelpunkt von "Die Unperfekten” trägt keinen Namen. Ihre Redaktionszentrale befindet sich in Rom, und sie erscheint täglich auf Englisch. Rachman erzählt seine Geschichte in Geschichten. Genauer, in elf Kapiteln, von denen jedes einem einzelnen Angestellten gewidmet ist. Jedes Kapitel ziert eine Schlagzeile sowie die Stellenbeschreibung der betreffenden Person. Zum Beispiel: "'Neue Studie: Europäer sind faul', Hardy Benjamin, Reporterin Wirtschaft/Finanzen” oder "'Bagdad: 76 Tote bei Bombenanschlägen', Craig Menzies, Nachrichtenchef”.

    Jedes dieser Porträts könnte für sich alleine stehen. Allerdings enthält jedes Ende jeweils Passagen, in denen nach und nach die Biografie der Zeitung selber aufgerollt wird - von ihrer Gründung durch einen etwas mysteriösen Unternehmer 1954 bis zu ihrer Schließung 2007.

    Von der durchaus ansprechenden Konstruktion des Romans einmal abgesehen, erweist sich Tom Rachman als ziemlich konventioneller Erzähler. Es geht ums Ich-du-und-wir-alle-zusammen. Um den Chef-Korrektor Herman Cohen, der seine Kollegen mit seinem immer länger werdenden Stilführer tyrannisiert, dessen Pingeligkeit jedoch der romantischen Verliebtheit und Genussfreude weicht, kaum hat er die Schwelle seines Zuhauses überschritten. Rachman beschreibt die Schwierigkeiten des blutigen Anfängers Winston Cheung, der sich in Kairo als Korrespondent versucht, und die Einsamkeit der Textredakteurin Ruby Zaga, die sich jeden Silvester in einem anderen Römer Hotel einquartiert und so tut, als wäre sie eine gestresste amerikanische Geschäftsfrau auf der Durchreise.

    Stets machen die Figuren eine kleine Entwicklung durch. Hier ruiniert eine Affäre eine Ehe, die keine war, da gelangt jemand zu einer späten Einsicht. Es ist reizvoll, wie präzise Rachman die Selbstwahrnehmung seiner Akteure inszeniert, um sie später zu kontrastieren und dieselben Akteure aus der Perspektive anderer zu schildern.

    Den Roman durchzieht erwartungsgemäß ein Hauch von Nostalgie. Es ist ein Abgesang auf den traditionellen Journalismus und auf die Zunft der Zyniker, deren größte Sorge bei einer akuten Staatskrise darin besteht, wie sie kurz vor dem Abschluss noch einen Fünfzig-Zeiler darüber mit einem spritzigen Titel auf die Frontseite hieven sollen. Rachman beherrscht den Redaktionsjargon perfekt. Er versteht sich überhaupt gut auf Dialoge. Sie wirken ebenso lebensecht wie seine Charaktere. Was fehlt, ist Vielschichtigkeit.

    Gelungene Literatur braucht nicht mit Metaebenen zu beeindrucken. Doch manchmal ist Blätterteig genau das, was einer literarischen Durchschnittssuppe in Gestalt eines feinen Häubchens die nötige Raffinesse verleihen würde. Tom Rachman schreibt über das sich wandelnde Geschäft mit der Realität. Doch anstatt die Mittel der Fiktion dazu zu nutzen, mit diesem Thema stilistisch und inhaltlich zu spielen, webt er wie so viele andere am Zottelteppich der Zwischenmenschlichkeiten. Dabei beschränkt er sich auf eine elegante Imitation der Wirklichkeit, die unterhaltsam ist und stellenweise richtig anrührend – die aber trotzdem oder eben deshalb von ein bisschen weniger Analogie und mehr Pixeln profitiert hätte.


    Tom Rachman: "Die Unperfekten", Roman.
    Aus dem Englischen von Pieke Biermann. Deutscher Taschenbuchverlag, München 2010.
    400 Seiten, 14.90 Euro.