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Elektronische Wahrheitssuche im Blätterwald

Das Wissen der Menschheit ist in ungezählten Mengen von Texten festgehalten. Viele davon sind äußerst unübersichtlich und kompliziert: zum Beispiel Gerichtsakten, wissenschaftliche Publikationen sowie die Berichterstattung der Massenmedien. Um Informationsberge zu bewältigen – und möglichst auch noch zu korrekten Ergebnissen zu kommen – werden zunehmen automatisierte Werkzeuge verwendet, welche den Menschen das Lesen, Denken und Verstehen weitgehend abnehmen sollen.

    Ein Computerwissenschaftler von der schottischen Universität Glasgow hat nun ein System vorgestellt, das in der Lage ist Text-Massen und Online-Auftritte automatisiert, inhaltlich auszuwerten und die Ergebnisse in einer übersichtlichen Graphik darzustellen. Professor Chris Johnson vom Lehrstuhl für Computerwissenschaft der Universität Glasgow:

    Die Technik bietet die Möglichkeit, sämtliche Argumente, die in einem komplexen Dokument enthalten sind, zu erkennen, in Gruppen einzuordnen und am Ende als Graphik darzustellen. Der Nutzer hat davon folgenden Vorteil: Er erhält einen einfach zu verstehenden Überblick, ohne selbst Hunderte Seiten lesen zu müssen. Man sieht ganz klar die Beweise, die für oder gegen eine bestimmte Entscheidung sprechen. Ich habe diese Technik benutzt, um am Beispiel des Absturzes der Concorde in der Nähe von Paris die Massenmedien auf die Qualität ihrer Berichterstattung hin zu überprüfen.

    Chris Johnson nennt die Technologie CAE – "Conclusion, Analysis, and Evidence", zu deutsch: Beweisanalyse und Schlussfolgerung. Mit CAE soll es beispielsweise möglich sein, einseitige, tendenzielle Presseberichte automatisch zu entlarven.

    Genau das findet mein System automatisch heraus. Wenn ich beispielsweise Medien analysiere, zeigt mir der letzte Teil des Diagramms, wer etwas sagte, wer also die Beweise lieferte. Und wenn ich dann auf dem Computerausdruck klar vor mir sehe, dass ein Journalist selbst keinerlei Beweise geliefert hat und dass alle Argumente indirekt sind, also von einem Experten stammen, dann entdecke ich die Tendenz sofort. Das funktioniert zum Beispiel auch bei neun Experten, von denen acht das gleiche behaupten und nur einer etwas anderes.

    CAE hat sich in den Vereinigten Staaten bereits bewährt, nämlich bei der Auswertung von Unfallprotokollen. Unübersichtliche Notizen verdichten sich auf eine einfache Grafik. Der schottische IT-Experte wollte einen spektakulären Funktionsbeweis liefern, indem er die Berichterstattung in den Medien über die Concorde-Katastrophe vom Juli zweitausend mit CAE untersuchte. Die Quellen: das umstrittene Boulevardblatt "The Sun", die Qualitätszeitung "The Times" und "BBC Online".

    Bei der Analyse von Bergen von Presseartikeln und eines Online-Auftritts hat sich herausgestellt, dass die Autoren so gut wie gar nicht über die Unglücksursache spekulierten. Sie beriefen sich auf Aussagen von Experten. Die Journalisten erfanden nur selten Theorien, was möglicherweise schiefgegangen sein konnte. Die Medien werden oft beschuldigt, Spekulationen in die Welt zu setzen, aber – zumindest in diesem Fall – tun sie es nicht.

    Dabei widerlegte die neue Wissensmanagement-Technologie das Vorurteil, dass die Sun besonders viel lüge. Im Gegenteil: Die Sun spekulierte so gut wie gar nicht. Die altehrwürdige Times verbreitete besonders viele Spekulationen – sogar einige nicht plausible. Offenbar folgte das Blatt dem Ehrgeiz, seine Leser besonders detailliert über den Unfall zu informieren und bediente sich vieler Experten. Der Online-Auftritt erwies sich als aktuell und sachlich. Eine CAE-Auswertung erfolgt in vier Schritten: Alle erkannten Schlussfolgerungen werden aufgelistet. Die wichtigen Gedanken, welche diese Schlussfolgerungen stützen oder in Frage stellen, werden dargestellt, ebenso die Beweise für oder gegen jede einzelnen Strang der Analyse. Schließlich stellt die Grafik die Ergebnisse dieser Schritte dar – angeblich gut strukturiert, kohärent, verständlich und nutzerfreundlich. Die Dateneingabe erfolgt teilweise noch manuelle, aber, so Chris Johnson:

    Diese Lücke schließt sich gerade. Als ich vor Jahren begann, diese Technik zu entwickeln, musste ich die Informationsmengen fast ausschließlich von Hand bewältigen. Heute benutzen wir Suchmaschinen, die beispielsweise in Unfallberichten bestimmte Formulierungen, deren Synonyme und assoziierte Begriffe automatisch erkennen. Solche computerbasierten Werkzeuge identifizieren die wichtigen Paragrafen heute für mich.