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Elektronischer Beulen-Detektiv

Technik. - Kratzer, Beulen, Dellen führen besonders oft im Mietwagengeschäft oder beim Carsharing zu Problemen: Keiner will es am Ende gewesen sein. Dem Problem rücken nun Forscher der Universität Bremen mit einer neuartigen Sensortechnik zu Leibe. Im Forschungsprojekt Kess haben die Ingenieure ein System entwickelt, das vollautomatisch Schäden an der Karosserie erkennt und meldet.

Von Christoph Kersting | 22.08.2013
    "Hier vorne am Kotflügel, nee, das ist nichts, das ist nur eine Verschmutzung, dann ist hier an der Frontschürze am Nummernschild noch etwas, im Bordbuch ist das noch nicht, da werde ich gleich mal bei Cambio anrufen, um das zu melden…"

    Schäden an Fahrzeugen wie dem silbernen Kombi gehören zum Tagesgeschäft von Carsten Redlich. Er ist Hamburger Regionalleiter des bundesweit tätigen Carsharing-Anbieters Cambio, einem der Projektpartner des Forschungsprojekts Kess – das steht für "Konfigurierbares elektronisches Schadensidentifikationssystem".

    "Beim Carsharing, dem Nachbarschaftsauto, geht der Wagen von Hand zu Hand, und wie unter Freunden oder Nachbarn muss ich sicherstellen, dass die Dinge, die passieren, auch bezahlt werden."

    Bisher muss der Cambio-Kunde hierfür im Bordbuch des Autos nachsehen, welche Schäden dort vermerkt sind und vor Fahrtantritt prüfen, ob neuere Beulen oder Kratzer in der Liste noch fehlen.

    "Und die Kess-Sensorik soll es ermöglichen diesen Vorgang komfortabler zu machen, indem das Auto meldet: Lieber Cambio- Kunde, gerade eben ist an der Beifahrertür Deines Autos etwas passiert. Es kann sein, dass da jemand mit dem Einkaufswagen gegen gekommen ist, bitte kontrolliere den Wagen, bevor Du losfährst."

    Die Cambio-Flotte ist noch nicht ausgerüstet mit der Kess-Technik, dafür aber ein verbeulter Kleinwagen in einer Werkshalle der Universität Bremen. Ingenieur Sergej Gontscharow hat es auf die Beifahrertür des blauen VW Polo abgesehen, mit einem scharfen Metallwerkzeug ritzt er einen zehn Zentimeter langen Kratzer in den Lack. Auf Gontscharows Laptop ist der Kratzer als deutlich erkennbare Schallwelle zu sehen. Die Schallwelle zeigt an: Die Karosserie wurde beschädigt. Herzstück der Technik seien über die gesamte Karosserie verteilte Sensorfolien, erklärt Projektleiter Karl-Ludwig Krieger. Diese speziellen piezoelektrischen Folien erfassen den Körperschall, der durch Einflüsse von außen entsteht.

    "Das heißt, wenn so eine Welle auf diese Folie trifft, wird eine Spannung erzeugt. Und aus diesem typischen Verlauf dieser Spannung über die Zeit können wir gewisse Kenngrößen herauskristallisieren und sagen: OK, das war jetzt zum Beispiel nur ein Türzuschlagen, oder es war normale Fahrt über eine Pflasterstraße oder Bahnschiene, oder ich war in der Waschanlage.…"

    ....oder es ist eben doch eine Delle im Blech. Den Unterschied erkennt eine Steuereinheit im Auto, die die Körperschallwellen mit gespeicherten Daten vergleicht und so echte Schäden herausfiltert. Kratzer und Dellen haben ihren im Wortsinn ganz eigenen Klang für die Kess-Sensorik. Die Steuereinheit meldet den Schaden am Ende per Drahtlosverbindung an den Laptop, der später einmal bei Cambio oder in der Zentrale einer Autovermietung stehen soll. Damit ist klar: Die Beule im Kotflügel ist entstanden, als Kunde A den Wagen in Gebrauch hatte und nicht Kunde B, der das Auto später übernommen hat. Projektleiter Karl-Ludwig Krieger sieht jedoch noch weitere Einsatzmöglichkeiten für Kess:

    "Auch das ist Ziel des Projektes: solche Überwachungssysteme für Transportaufgaben. Und in erster Linie für uns natürlich interessant: Transport von sehr hochwertigen Fahrzeugen. Deutschland ist ein Exportland von hochwertigen Fahrzeugen, die verschifft werden. Und auch dort kommt es immer wieder zu kleinen Schäden bei der Verschiffung, und dort ist auch der Streit immer vorprogrammiert: Wo war denn der Schadenseintrag, wer haftet dafür, wenn ich einen Lackschaden, eine kleine Delle habe?"

    Im Labortest funktioniert die Sensortechnik jedenfalls, 2014 dann folgen laut Projektleiter Krieger Praxisversuche mit Autos im Straßenbetrieb. In fünf bis sechs Jahren wollen die Bremer Elektroingenieure schließlich soweit sein, dass Kess auf den Markt kommt – zu einem angepeilten Preis von 100 Euro pro Einheit.