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Elf Uhr

Gert Neumann:

Katrin Hillgruber |
    - Anschlag DuMont, 1999, 272 Seiten, Preis: 39,80 Mark

    - Elf Uhr DuMont, 1999, 432 Seiten, Preis: 39,80 Mark

    Es muß vor vier Jahren gewesen sein, als der ehemalige DDR-Schriftsteller Gert Neumann bemerkte, daß er es beim Versuch, ein gesamtdeutsches Gespräch zu führen, mit Aphasie-Anfällen zu tun bekam, mit Sprachstörungen. Er habe manche Sätze nicht mehr beenden können, sagt er. Er beschloß, mit der ihm eigenen Beharrlichkeit der Sache auf den Grund zu gehen. Schon seine Erzählung "Die Klandestinität der Kesselreiniger", die 1989 erschienen war, hieß im Untertitel programmatisch "Ein Versuch des Sprechens".

    Mit dem neuen Buch "Anschlag" unterbreitet Gert Neumann ein Gesprächsangebot, das es in sich hat. Es besteht aus einer theoretisierenden Gratwanderung in ebenem brandenburgischen Gelände. Sie führt zwei Manner, den in Ost-Berlin lebenden Ich-Erzähler und einen auffallend bunt gekleideten Westdeutschen, vom Städtchen Bernau zum Kloster Chorin. Zufallsbekannte sind sie, zusammengekommen durch ein Sonderangebot der Bahn. "Was mag die Vorsehung wohl damit, wissen Sie, daß sie die Deutschen so grimmig durch den billigen Wochenendtarif der Deutschen Bahn AG, aus ihrer Ruhe aufgeschreckt hat-, bezweckt haben!" ruft der Ostdeutsehe seinem Begleiter zu. Dieser Zug eröffnet die Partie "Anschlag". Mit der Anlehnung an Heinrich von Kleists "Katechismus der Deutschen", den Napoleon des Originals durch den Wochenendtarif ersetzend, wird die Meßlatte eines bisweilen wunderlichen Diskurses aufgelegt.

    Gert Neumann ist in der Gegenwart einer seit ihrer "Wiedervereinigung" merkwürdig verstummten Republik angekommen. Ein wirklicher Gedankenaustausch hat für ihn bis heute in Deutschland nicht stattgefunden, eher ein wortreiches Nichtssagen des einen Teils über den anderen, fast immer in west-östlicher Richtung. Gerade im Westen macht Neumann eine "Verlegenheit in den Angelegenheiten des Sprechens" aus. Hier setzt sein Buch ein. Der Titel "Anschlag" hat nichts Terroristisches im Sinn, sondern spielt zunächst wortwörtlich auf eine inoffizielle Literaturzeitschrift der DDR an. Deren Schwierigkeiten mit der Stasi werden ansatzweise wiedergegeben, als ein Beispiel für möglichen Widerstand. Gedacht ist aber auch an Luthers Thesenanschlag oder schlicht an den Anschlag der Schreibmaschine - ein Gedanke manifestiert sich in der Schrift. Ist es ein Gedanke Gert Neumanns, so bemüht er sich um den authentischen, nicht behauptenden Ausdruck. "Was wird eigentlich durch die Behauptung verstellt", so Gert Neumann. "Das ist ja ein altes Problem, gerade wenn eine Gegenwart meint, sie würde etwas Neues einrichten, ist das ja Anlaß genug, denn es wird ja viel gelogen auf der Welt. Und woran erkennt man die Lügen? Das sind alles Fragen" mit denen mußte man sich im Osten beschäftigen. In Wirklichkeit ist der Sozialismus untergegangen, das steht fest, trotz aller Behauptungen. Das gibt viel zu denken. Die Tatsache allein, daß etwas aufgebaut werden soll und in Wirklichkeit geht es unter, das hat Konsequenzen die Wahrnehmungsangelegenheiten des Menschen betreffend. Und aus dieser Angelegenheit kann man auch viel lernen. Es wird immer wieder Neues behauptet. Und dem Behaupteten zuwider läuft etwas ganz anderes, und das muß man doch sehen lernen. Darüber muß man sich auch unterhalten können. Das wäre so ungefähr das Allgemeine, um das es ginge im deutschen Gespräch. Daß man sich darüber verständigt, daß also neben der Behauptung selbstverständlich etwas existiert, das unter der Behauptung verborgen ist, und daß trotz der Behauptung etwas genau Gegenteiliges passiert. Das haben wir ganz genau erlebt im Osten, und das ist hochinteressant."

    Die beiden Spaziergänger wandeln durch eine semiotisch bedeutsam Gegend: die Gartenlandschaft, die Peter Joseph Lenné einst um das Kloster Chorin herum anlegte. Der Sakralbau diente ihm als reine Staffage. Für den Ich-Erzähler, der seinem Begleiter in vielen Dingen des kulturellen Wissens überlegen ist - was bald zur Solidarisierung des Lesers mit dem Begleiter führt -, verkörpert Lennés Anlage eines versteckten Sees eine Analogie zu seiner eigenen Sprachtheorie des Verborgenen.

    "Anschlag" ist ein Leitfaden der Wahrheitspraxis und zugleich ein einsames Unikum. Unbeschadet der Lesemühe gibt es das vielleicht erste Ost-West-Gespräch in der deutschen Literatur überhaupt zu entdecken, das diesen Namen verdient. Neumann unternimmt programmatische Anstrengungen, wie sie selten geworden sind. Zahlreiche geistige Paten werden aufgerufen, von den Mystikern wie Jakob Böhme und Martin Buber über Kleist, Mallarmé, Kafka bis zu den französischen Strukturalisten, etwa Gilles Deleuze, der den Begriff der Klandestinität prägte.

    Listig spinnt Gert Neumann, dessen Bücher seit dem Erstling "Die Schuld der Worte" von 1979 nur im Westen erscheinen durften, die Erbe-Thematik des untergegangenen Staates fort. Er entwirft eine Kontrafaktur für Eingeweihte, mit Satzkaskaden und widerspenstiger Kommasetzung. Unter dem kategorisierenden, die Fülle des Lebens und der Poesie ausdörrenden Sprechen des sozialistischen Realismus hat er wie kaum ein anderer Schriftsteller gelitten. Der 57jährige gebürtige Ostpreuße war 1969 aus der SED ausgeschlossen beziehungsweise, was weit schlimmer war, gestrichen worden. Vom Studium am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher wurde der Sohn der regimetreuen Schriftstellerin Margarete Neumann suspendiert. Doch seine Lebensentscheidung hieß in der Enge der DDR kompromißlos Literatur. Eine subversive Literatur, die er nicht zuletzt der erbitterten Verfolgung durch den Staatssicherheitsdienst abtrotzte. Neumann arbeitete zunächst als Schlosser, später im Heizungskeller eines Diakoniekrankenhauses. 1981 erschien der Roman "Elf Uhr", den der DuMont Verlag mit einem Vorwort von Martin Walser neu herausgebracht hat.

    Ein verdienstvolles Untemehmen, denn das laut Walser "fabelhafte und durch Genauigkeit wahrhaft schöne Buch" gehört tatsächlich zu den erneut entdeckten der deutschen Gegenwartsliteratur. Ein Sprachwächter hatte in "Elf Uhr" seinen Posten bezogen, ein Verfechter der Poesie als Synonym für Menschenwürde. Schauplatz des Romans ist das Leipziger Kaufhaus "Konsument", in dem Neumann als Betriebsschlosser arbeitete. Im Realsozialismus war das ein prekärer Ort "Ich hatte einen sehr guten Instinkt, im Jahre 1973/74", so Neumann. "Ulbricht war gestürzt worden, und Honecker kam an die Macht. Es tauchten so ganz eigenartige Zyniker auf. Die waren um die 35, hatten ein Schnauzbärtchen und waren ziemlich propere Leute, und es war ganz deutlich zu sehen: Es findet ein Machtwechsel statt. Eine junge Generation, die ziemlich intellektuell und zynisch war, kam an die Macht. Und das hieß dann plötzlich Realsozialismus, und dazu gehörte auch das ‘Konsument’-Kaufhaus, das war sozusagen das Symbol: Konsument. Früher, ganz kurz vorher, war das Wort ‘konsumieren’ noch ein Schimpfwort. Plötzlich kippte das um, man sprach von besseren Arbeits- und Lebensbedigungen, man behauptete, daß der Mensch nicht gut genug lebt und daß der Realsozialismus sozusagen von den hehren Idealen des Kommunismus abgeht und den Menschen etwas Konkretes anbietet. Das ‘Konsument’ gehörte dazu, das war ein ziemlicher Klopper, war ganz schön überzeugend. Das ist eigentlich ein altes Kaufhaus, und plötzlich wurde eine Blechfassade drumgebaut. Auch architektonisch war das damals ziemlich neu und mutig. Ich bin reingegangen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Es war sofort klar, daß sich dahinter ein fürchterliches Elend abspielt. Das war wahrscheinlich genau der richtige Ort gewesen, um sich mit dem Sozialismus auseinanderzusetzen. Denn er lebte von nun an mit der Behauptung, daß er sich um die Menschen kümmem würde."

    Gert Neumanns sehr eigener, ja eigensinniger Widerstand als poetischer Akt ließ die schlichte Gegnerschaft hinter sich. Wie der Begriff des Gesprächs verkörpert für ihn der Widerstandsbegriff eine konkrete Utopie. Seiner Poetik geht es um die Legitimation des Sprechens, um die Aufdeckung einer authentischen Sprache jenseits der allgegenwärtigen Lügen. Der Ort dafür sei die Begegnung.

    "Erklär mir Widerstand!" hatte der westdeutsche Spazierganger etwas naiv gefordert, auf eine Gedichtzeile Ingeborg Bachmanns anspielend. Der Ich-Erzähler antwortet mit der Geschichte von der Verhaftung seines Sohnes, die ihn, den Vater, bis in die Asservatenkammer eines Untersuchungsgefängnisses führte. Wer die lineare Wiedergabe eines Ereignisses erwartet, verkennt und unterfordert den Autor. Der Sohn bleibt bis zuletzt, wie es heißt "in einem Geschehen verborgen", seine Verhaftung durch die "Erkenntnismüden", Neumanns Chiffre für die Stasi ist nur als Sprachhandlung relevant.

    Dieser Autor, man ahnt es, ist schwer zu lesen. Verfügt "Elf Uhr" durch ziemlich regelmäßige Tagebucheinträge zu eben jener Stunde über eine feste Struktur, die von der reinen Reflexion zum äußeren Anlaß zurückzwingt, so geht Neumann in "Anschlag" den Weg nach innen konsequent weiter. Die Diktatur ist verschwunden, was bleibt, ist die Sprache. Ästhetischer Gewinn, gar Lesegenuß sind nur durch Anstrengung zu erlangen. Der Text neigt dazu, sich der erstrebenswerten Einsicht stilistisch immer wieder selbst in den Weg zu stellen. Über weite Strecken sehnt man sich nach Narration ohne doppelten und dreifachen Theorieboden, nach Anschaulichkeit. Einen "Satzbauer" nennt Martin Walser den Kollegen. Das klingt harmloser, als es gemeint ist. Dennoch: Das Wagnis einer Überprüfung lohnt sich.