Inmitten dieses grausamen Schweigens des Geldes hatte ich dem leibhaftigen Tod ins Auge gesehen, dem hoffnungslosen Tod, der nur Verwesung ist und sonst nichts.
Schrieb der andalusische Dichter Garcia Lorca 1929 als Augenzeuge des Börsencrashs in New York. Lorca war in jenen schwarzen Tagen der New Yorker Stadtgeschichte Zeuge der Verzweiflungstaten ruinierter Investoren geworden, die sich aus den Hochhäusern der Wall Street in die finsteren Straßenschluchten stürzten.
Eine Schattenschlucht (...), in der die Krankenwagen eben diese Selbstmörder mit den schwer beringten Händen abtransportierten.
New York als Mega-Metropole inspirierte Lorca zu Gedichten voll dunkler Metaphern. Es dominiert die Angst vor der Vernichtung, nicht nur bei Lorca. "Urbane Angst" nennt es der New Yorker Professor für Geschichte, Mike Davis, dessen Aufsatz den Auftakt bildet zu einem "Stadtrundgang" ganz eigener Art: einer kulturkritischen Reflexion über den städtischen Raum im Zeitalter der Globalisierung vor dem Hintergrund des Anschlags auf New York. Unter dem schönen Titel "Boulevard Ecke Dschungel", der nicht zufällig an Brechts Theaterstück "Im Dickicht der Städte" denken lässt, versammelt der Band Aufsätze renommierter Kulturwissenschaftler und Gespräche der Herausgeber mit Soziologen, den Schriftstellern Robert Menasse und Roger Willemsen und dem Philosophen Josef Früchtl. So entstand eine lesenswerte Textsammlung, die den von der offiziellen Stadtpolitik verschwiegenen beunruhigenden Aspekten gegenwärtiger Stadtentwicklung nachgeht. Bertolt Brecht bezeichnete in seinem Stück "den Dschungel der Großstadt als bedrückenden, lauten und rohen Alptraum, dessen Personal täglich ums Überleben kämpfen muss", schreiben die Herausgeber Elisabeth Blum und Peter Neitzke, Experten für Stadt- und Architekturgeschichte:
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Illegal Beschäftigte, Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus, all diejenigen, denen der Markt signalisiert, dass er sie je länger je weniger braucht, versuchen im Dschungel der Stadt zu überleben.
Die Autoren hinterfragen die Ängste, die der 11. September ins Unendliche gesteigert zu haben scheint. War doch der monströse Anschlag und die apokalyptische Szenerie der einstürzenden Zwillingstürme auch ein Anschlag auf das Selbstverständnis und die Hybris der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die sich in den modernen Großstädten ihre Architektur der Ausgrenzung schafft. Doch das Unheimliche und die Bedrohungen, die in diesem auf Naturbezwingung und Geldgeschäften basierenden Stadtalltag lauern, beschäftigten Literaten und Philosophen schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Mike Davis zeigt dies in seiner Montage literarischer Zitate nicht nur am Beispiel Lorcas. Er zitiert einen in Vergessenheit geratenen Text von Ernst Bloch aus dem Jahr 1929: "Die Angst des Ingenieurs". Bloch beschreibt darin den angsterfüllten Bürger in der Entgegensetzung von urbaner Umwelt in kapitalistischen und in vorkapitalistischen Städten. In letzteren nämlich – das Beispiel ist Neapel – herrsche nicht der Irrglaube über eine totale Kontrolle der Natur. Mit dieser Erinnerung an Blochs kapitalismus-kritische "Stadtbetrachtung" gibt Mike Davis die zentrale Denkrichtung des Bandes vor.
Auch der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme geht vom Börsencrash 1929 als zentraler Erfahrung aus. Damals bereits seien die Konsequenzen globalisierter Wirtschafts- und Börsenverpflechtungen deutlich geworden. Böhmes Reflexion über postmoderne Global Cities gilt weniger dem psychologischen Trauma, als vielmehr der Analyse einiger symbolischer, kultureller und globalpolitischer Konfigurationen. Denn die Twin Towers bildeten zusammen mit anderen Finanzgebäuden in der Nachbarschaft das Nervenzentrum einer Globalisierung, die aus Städten Global Cities mit eigenen Lenkungs- und Kontrollzentren gemacht hat. Über die materiale Funktion hinaus schreibt Böhme den Türmen eine symbolische Bedeutung als "Götzen" der neuen Weltordnung zu. Solche Städte, so die einhellige Kritik, lassen immer weniger Raum für "plural-kulturelle Urbanität". Sie erfordern hoch effizient agierende Bewohner, entsinnlichte Leistungs- und Funktionsträger: Menschen ohne Eigenschaften. Tatsächlich dominiert heute die "soziale Zwangsvorstellung einer überamerikanisierten Stadt", wie Robert Musil es nannte. Doch diese "amerikanisierten" Städte sieht der New Yorker Mike Davis allesamt als "potentiellen ground zero":
In der 'amerikanisierten großen Stadt’ hat (...) die bürgerliche Wunschvorstellung einer vollständig berechenbaren und sicheren Umwelt paradoxerweise eine radikale Unsicherheit hervorgebracht.
Die seit Beginn der 90er Jahre fortschreitende Privatisierung öffentlicher Räume und der forcierte Ausbau der Stadt als "Event-City" für eine kleine Klientel kaufkräftiger Konsumenten wird neuerdings flankiert von "Sicherheitsmaßnahmen", die aus Städten video-überwachte Sperrzonen machen. Wenn sich diese Sicherheits- und Kontrollbedürfnisse weiter durchsetzten, so der Soziologe Sighard Neckel im Gespräch mit Peter Neitzke, stehe eine Art "Refeudalisierung öffentlicher Räume" zu befürchten. "Der Paternalismus der Postmoderne" zeige sich gerade darin, dass sich die "entbehrlichen Klassen" heute in das alte Schreckbild zurückzuverwandeln drohten, das die bürgerliche Ordnung in den "gefährlichen Klassen" schon im frühen 19. Jahrhundert besaß. An diese historische Entwicklung erinnert auch der Architektursoziologe Werner Sewing, der in der heutigen Stadtkritik eine Tendenz zur "Idealisierung" des städtischen Lebens ausmacht. Zu Recht erinnert er an die "Politik der Säuberung", die gerade im 19. Jahrhundert Großstädte wie Paris von den "gefährlichen Klassen" befreien sollte. Die sogenannten Prachtboulevards sind nichts anderes als das Ergebnis einer solchen Politik. Architekt Haussmann hatte den Auftrag von Napoleon III mit dem Namen "Strategisches Verschönerungsprojekt" zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt: Endlich konnten schwere Artilleriegeschütze gegen den rebellischen proletarischen Osten der Stadt aufgefahren werden. Trotz der insgesamt beunruhigenden Bestandsaufnahmen zur Stadtentwicklung verweigert sich der Philosoph Früchtl einem totalen Kulturpessimismus:
Die können machen, was sie wollen, die können mit ihren Putzkolonnen versuchen, ganze Städte klinisch zu säubern, sie werden nicht verhindern können, dass die Unordnung, die sie vertreiben wollen, wieder zurückkommt. (...) Die Dialektik der Aufklärung werden auch die Amerikaner nicht austreiben.
"Boulevard Ecke Dschungel; StadtProtokolle", herausgegeben von Elisabeth Blum und Peter Neitzke. Es ist in der Edition Nautilus erschienen, hat 224 Seiten und kostet 19.90 Euro.