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EM 2020
Von revolutionärer Idee zur Pandemie-Farce

Vor neun Jahren kam die Idee der paneuropäischen Europameisterschaft erstmals auf. Neben Kritik an wenig klimafreundlichem Reiseaufwand gab es damals auch Lob für die Idee. In der Corona-Pandemie sorgt das Turnier mittlerweile für viel Kopfschütteln - und möglicherweise Rechtsstreitigkeiten.

Von Raphael Späth | 13.05.2021
Infantino und Platini sitzen bei einer pressekonferenz und lächeln.
Gianni Infantino und Michel Platini waren an der Auswahl der Ausrichterstädte beteiligt. (2014) (dpa)
"Ich habe die Idee, im Jahr 2020 eine EM in ganz Europa auszutragen statt wie bisher nur in einem Land. Aber das ist nur eine Idee, nur eine Idee." Eine Idee, die nur sechs Monate später in die Tat umgesetzt wird. "Die Finalrunde der EURO 2020 wird in verschiedenen großen Städten in ganz Europa ausgetragen werden."
Das verkündet im Dezember 2012 Gianni Infantino. Der heutige Präsident des Weltverbands FIFA, war damals noch UEFA-Generalsekretär. Er sagt:
"Wenn man wie wir in Europa den besten Fußball hat, mit den besten Stadien und den schönsten Städten, werden wir die größte Party aller Zeiten organisieren, überall in Europa, im Sommer 2020."
24.10.2020, Fussball 1. Bundesliga: FC Bayern - Eintracht Frankfurt. Ein Geisterspiel wegen Corona, ohne Zuschauer in der Allianz-Arena in München.
Fußball-EM - Die EM-Regeln für Spieler, Fans und Journalisten
Mit einem Jahr Verspätung findet die Fußball-Europameisterschaft ab Mitte Juni doch noch statt. Wegen der Corona-Pandemie gelten besondere Regeln – für Spieler, Fans und Journalisten. Auch für mögliche Spielausfälle wegen Corona-Infektionen in den Mannschaften hat die UEFA vorgesorgt.

Entscheidung für Aserbaidschan 2014

Die größte Party aller Zeiten, dazu noch mehr Mannschaften, noch mehr Spiele, noch mehr Standorte – und vor allem: Noch mehr Umsatz. Kritik gibt es reichlich: Dieses Projekt, ein Ausdruck von reiner Profitgier und Gigantismus, heißt es, dazu auch noch umweltschädlich. Aber: Die Idee Platinis – sie hat auch Befürworter.
"Auf den ersten Blick erscheint es sehr logisch. Denn Europa ist ja jetzt nicht Afrika oder Asien, wo man stundenlang von einer Hauptstadt zur anderen fliegt. Als ich das zum ersten Mal gehört hab, hab ich zuerst gedacht: Respekt, das hört sich sehr gut an."
Eine Europameisterschaft der kurzen Wege hatte sich Franz Beckenbauer also erhofft. Die UEFA-Offiziellen haben bei der finalen Entscheidung 2014 aber wohl anderes im Sinn. Eine Ausrichterstadt ist Baku – Hauptstadt Aserbaidschans, rund 4.000 Kilometer Luftlinie und zwei Zeitzonen von Deutschland und dem Großteil der anderen Standorte entfernt.

Austragungsort Baku "nicht akzeptabel"

"Aserbaidschan, ein Land, was wirklich überhaupt keine Anzeichen macht, sich irgendwo zu demokratisieren oder Menschenrechte zu gewährleisten, muss ich ganz ehrlich sagen, als Austragungsstandort zu wählen, zum jetzigen Zeitpunkt zu wählen, ist nicht akzeptabel", sagt Viola von Cramon, Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament, im Deutschlandfunk. Die prekäre politische Lage wird im Evaluierungsbericht der UEFA nicht erwähnt. Stattdessen wird argumentiert: Man wolle mit Aserbaidschan als Standort neue Märkte erschließen.
"Trotzdem heißt das nicht, dass wir blind sind gegenüber den Dingen, die dort passieren", entgegnet der damalige Präsident Wolfgang Niersbach bei der Entscheidung 2014. "Aber unsere Partner sind die Fußball-Verbände und da bleibe ich beim Beispiel Aserbaidschan: Dorthin haben wir sehr gute, funktionierende Beziehungen."

Pandemie als "Neuanfang für den Weltfußball"

Daniel Koch, Corona-Berater der UEFA
Fußball-EM trotz Corona-Pandemie - "Sehr relevant für das Wohlbefinden der europäischen Bevölkerung"
Es sei ein sehr legitimes Bedürfnis der Bevölkerung, sich am Fußball zu erfreuen, sagte der Corona-Berater der UEFA, Daniel Koch, im Dlf. Gerade in diesen schwierigen Zeiten müsse man deshalb alles bewilligen, was mit einem übersehbaren Risiko machbar sei.
Der DFB bewirbt sich mit dem Standort München sowohl für die Finalrunde als auch für drei Gruppenspiele und ein Viertelfinale. Kurz vor der entscheidenden Abstimmung überlässt man dann aber doch London den Vortritt für das Endspiel. Auch mit Hinblick auf die EM 2024, für die der DFB sich bewirbt – und 2019 auch den Zuschlag bekommt.
Obwohl UEFA-Chef Platini 2015 wegen einer Korruptionsaffäre seinen Platz räumen muss: seine Idee einer paneuropäischen Europameisterschaft bleibt in all den Jahren unangetastet. Bis zum März 2020, als die Corona-Pandemie der UEFA einen Strich durch die Rechnung macht. Der Spielbetrieb wird für mehrere Wochen unterbrochen, die Saison muss im Sommer zu Ende geführt werden. Das Projekt EURO 2020 – auf einmal undenkbar – wird um ein Jahr verschoben.
"Wir haben gesehen, dass unser Ökosystem fragil ist. Wir müssen jetzt verantwortungsvoll handeln und uns gegenseitig helfen", sagt der neue UEFA-Präsident Aleksander Ceferin im März 2020. "Es gibt keine Zeit mehr für egoistische Ideen oder Selbstsüchtigkeit. Das ist ein Neuanfang für den Weltfußball."

Ceferin will Zuschauer garantiert bekommen

Die mahnenden Worte scheinen Ceferin nur relativ kurz im Gedächtnis geblieben zu sein: Schon im Frühjahr diesen Jahres, inmitten der dritten Pandemie-Welle, fordert er von allen Standorten eine klare Garantie: Im Sommer müssen Fans in den Stadien sein, unabhängig von der Pandemie-Lage – andernfalls droht der Ausschluss. Viele Städte lenken ein, die Politik erteilt vielerorts Ausnahmegenehmigungen – nur drei Standorte stellen sich quer: Dublin, Bilbao – und München.
"Es wird, kann und darf keine Garantien geben, das habe ich der UEFA auch so signalisiert", sagt Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter vor ein paar Wochen im Deutschlandfunk. "Es wird einfach dann entschieden, wenn wir ein paar Wochen vorher wissen, wie sich die Inzidenz entwickelt. Und das wird natürlich in engster Abstimmung mit den Gesundheitsbehörden entschieden werden."
Trotzdem bleibt München, wenn auch unter Vorbehalt, dabei. Anders Dublin und Bilbao: Auch dort will die Politik nichts garantieren. Die UEFA streicht deshalb kurzerhand die beiden Spielorte, verlegt die Partien nach London und in die neue Gastgeberstadt Sevilla.

Bilbao klagt

Bilbao will deshalb jetzt auf Schadensersatz klagen und alle Kosten zurückerstattet bekommen. Ein Vorhaben, das durchaus Erfolg haben könnte, "weil sich die UEFA hier meines Erachtens ohne plausiblen Grund aus dem Vertrag gelöst hat oder lösen will.", meint Sportjurist Paul Lambertz. Die UEFA gebe als Hauptgrund an, dass für sie wichtige Vertragsinhalte im sogenannten Host City Agreement nicht mehr eingehalten werden können.
"Aber die eigentliche Leistung, also das Abhalten des Fußballspiels vor Ort, ist ja immer noch möglich. Und das, was jetzt da ist, ist ja letztlich so eine Art Kosmetik. Die Fans sind nicht mehr da oder nur wenige Fans können ins Stadion rein, aber ansonsten ändert sich ja nichts an der Leistungsbereitschaft von Bilbao. Das ist meines Erachtens kein Grund, den Vertrag zu beenden."
Die vor neun Jahren angekündigte größte Party Europas – sie könnte in diesem Sommer in einer Farce enden – und in einem jahrelangen Rechtsstreit. Auf jeden Fall wird sie ganz anders als zu Beginn von manchen erhofft.