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Emotionale Kälte gepaart mit der Bereitschaft zu töten

Von sechs britischen Soldaten wurde Heinrich Himmler im Mai 1945 in Lüneburg verhört. Er aß dabei Käsebrote, trank Tee und biss schließlich auf eine Zyankalikapsel, die er nach Aussagen seiner Frau seit Kriegsbeginn in einer Zahnlücke verborgen hatte. Das war das Ende eines der Hauptorganisatoren von Massenmord und Holocaust. Erstaunlich, dass erst jetzt die erste umfassende Biographie Himmler erschienen ist. Sie stammt aus der Feder des Historikers Peter Longerich. Otto Langels hat sie gelesen und mit dem Autoren gesprochen.

20.10.2008
    In den letzten Jahrzehnten ist eine kaum noch überschaubare Zahl von Studien zum Nationalsozialismus erschienen. Jeder Einzelbereich, so scheint es, ist ausreichend erforscht. So liegen zahlreiche Arbeiten zur Judenverfolgung, zu den SS-Einsatzgruppen an der Ostfront, zum System der Konzentrationslager oder anderen Teilbereichen des SS- oder Polizeiapparates vor. Was aber fehlt, ist eine Darstellung, die die verschiedenen Aspekte zusammenfasst. Zudem existiert keine Biographie Heinrich Himmlers, die die neueren Forschungen berücksichtigt. Peter Longerich versucht beides einzulösen. Auf mehr als 1000 Seiten verknüpft er eine detaillierte Lebensbeschreibung des Reichsführers-SS mit einer Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Repressionsapparates. Und, um es gleich vorwegzunehmen, es ist ihm auf beeindruckende Weise gelungen.

    "Wenn man versucht, die gesamte SS nach diesen intensiven Forschungen in den Blick zu nehmen, dann, denke ich, kann man das am besten durch die Person des Mannes, der an der Spitze gestanden hat, eben der Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Denn er ist derjenige gewesen, der diese Organisation nicht nur aufgebaut hat, sondern maßgeblich zusammen gehalten hat und immer wieder innerhalb des Dritten Reiches neue Aufgaben gestellt hat."
    Heinrich Himmler war die Karriere als Massenmörder nicht in die Wiege gelegt. Er stammte aus einer gut situierten Münchner Beamtenfamilie. Der Vater war Gymnasiallehrer. Erziehung zur Religiosität, aktive Teilnahme am kirchlichen Leben, humanistische Bildung, gepflegte Umgangsformen waren selbstverständlich.

    "Man würde denken, der Organisator des Holocaust das ist jemand, der als Kind schon aufgefallen ist durch besondere Grausamkeit, der irgendwie als Kind missbraucht worden ist oder der unter einem schrecklichen Vater gelitten hätte, irgend so etwas. Das ist eigentlich nicht der Fall. Die Geschichte seiner Kindheit und Jugend ist eigentlich in großen Teilen normaler - zumindest nach den Maßstäben der damaligen Zeit - als man das so sich im allgemeinen vorstellen könnte."
    Zwei Charakterzüge fallen dennoch auf: eine Bindungsschwäche, wie Peter Longerich die offensichtlichen Probleme des jungen Himmler im persönlichen Umgang mit anderen bezeichnet. In seinem sozialen Verhalten war er ausgesprochen gehemmt. Und zum anderen entwickelte er einen ausgeprägten Willen, seine körperlichen Schwächen zu überwinden. Seine blasse Erscheinung, seine schlaffe Figur versuchte er durch ein bewusst soldatisches Auftreten zu überspielen. Die kühle, nüchterne, reglementierte Welt des Militärs kam dem unsicheren Himmler entgegen. Er meldete sich freiwillig als 17-Jähriger, aber als Vertreter der sogenannten Kriegsjugendgeneration blieb ihm der Einsatz an der Front verwehrt. Gleichwohl prägte ihn das gewaltbereite Milieu.

    "Er ist wie Millionen anderer Männer seines Jahrganges trainiert worden, fast ein Jahr lang am Ende des Ersten Weltkrieges, zum Töten im Krieg. Und er war natürlich bereit, die Feinde umzubringen. Und er hat diese Einstellung dann in die innenpolitische Situation der Nachkriegszeit übertragen. Wenn es 1920 einen Putsch gegeben hätte und er hätte sich dem sehr gerne angeschlossen, hätte er natürlich politische Gegner umgebracht."
    Seine emotionale Kälte, gepaart mit der Bereitschaft zu töten, kamen seiner Karriere zugute. Zwei seiner Mentoren, die SA-Führer Ernst Röhm und Gregor Strasser, wurden 1934 unter seiner maßgeblichen Beteiligung ermordet. Aber nicht nur sein skrupelloses Vorgehen und seine unbedingte Loyalität gegenüber Hitler führten ihn an die Spitze der SS. Er war ein cleverer Machtpolitiker, der seinen Handlungsspielraum zielstrebig erweiterte und Gegensätze in der NS-Führung für sich zu nutzen wusste.

    "Ich denke, wenn man versuchen will, diesen Erfolg zu erklären, dann muss man sich seinen Führungsstil ansehen. Das war ein Stil, bei dem es eher darum ging, seine Leute zu erziehen. Er hat sie hart bestraft, hat ihnen dann wieder verziehen, hat sie gelobt, er hat sich um ihr Privatleben gekümmert, beziehungsweise sie hatten kein Privatleben mehr. Er hat ihnen Briefe geschrieben: Sie trinken zu viel, Sie haben zu wenig Kinder, Sie fahren zu schnell Auto usw."
    Der nationalsozialistische Terror, darauf weist Peter Longerich zu Recht hin, erhielt eine besondere Dynamik durch die Verzahnung von SS- und Polizeikomplex. Wäre Heinrich Himmler in den 30er Jahren durch jemand anderen abgelöst worden, wäre diese hochgefährliche Verbindung nicht zustande gekommen, so Longerich. Womöglich überschätzt hier der Autor die Bedeutung und Unersetzlichkeit Himmlers, war doch der Reichsführer-SS als pedantischer Buchhalter und Kleingeist wenig beliebt. Zugleich galt er als Phantast. Sein Germanenkult mit skurrilen Ritualen und Mythen löste in der NS-Führung Befremden aus. In der Öffentlichkeit inszenierte sich Himmler als betriebsamer, unermüdlicher Organisator: Er war ständig im Einsatz, hatte für alles ein Ohr, inspizierte seine SS-Truppen und die Konzentrationslager. Aber er machte sich nicht selbst die Hände schmutzig.

    "Soweit wir wissen, war er nicht selber an den Massenmorden persönlich beteiligt, aber wir wissen, dass es eine ausgesprochene Vorliebe von ihm war, etwa zu Exekutionen zu gehen, sich das anzuschauen. Auch um zu demonstrieren, dass er als der höchste Führer der SS eben bereit ist, sozusagen die Mühen, die Last seiner Männer mitzutragen."

    Himmler: "Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Und dies durchgehalten zu haben und dabei, abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen, anständig geblieben zu sein, hat uns hart gemacht und ist ein niemals genanntes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt."
    Heinrich Himmler im Oktober 1943 in der berühmt-berüchtigten Posener Ansprache vor den Gruppenführern der SS. So heroisch er sich bis zuletzt vor seinen Untergebenen gab, so unspektakulär war sein Ende. Ein dilettantischer Versuch, nach Kriegsende in Zivilkleidung, mit falschen Papieren und Augenklappe unterzutauchen, scheiterte an einem Kontrollposten. Er ließ seine britischen Vernehmer noch wissen, wen sie vor sich hatten, biss dann auf eine im Mund versteckte tödliche Zyankalikapsel und entzog sich so jeder Verantwortung.

    Das Ende ist tatsächlich kläglich und banal. Er hat sich wirklich davon gestohlen, das haben ihm ja auch seine SS-Kameraden übel genommen, es hat sich ja nie so etwas wie ein Himmler-Mythos entwickeln können. Ich denke, dass diese Persönlichkeit einfach zusammen gebrochen ist.

    "Ist das ein Mensch?" überschrieb der Schriftsteller Primo Levi seine Erinnerungen an Auschwitz. Angesichts der Monstrosität der Verbrechen, die der Reichsführer-SS anordnete und organisierte, könnte man die Frage verneinen. Doch Peter Longerich ist es mit seiner sehr lesenswerten Darstellung gelungen, die schwer zugängliche Persönlichkeit Himmlers und die Motive hinter den ungeheuerlichen Taten soweit zu enträtseln, wie es einem Historiker möglich ist.

    Das war Otto Langels über die Heinrich Himmler - Biographie, verfasst von Peter Longerich. Das Buch ist im Siedler-Verlag erschienen, hat 772 Seiten und kostet 39 Euro 95.