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Emotionale Verkettung

Neurologie. - Das Mitfühlen mit anderen Menschen und die eigenen Gefühle sind anscheinend eng miteinander verknüpft. Zürcher Neurologen haben jetzt bei Testpersonen, die ihre eigenen Gefühle nicht deuten können, die Empathie untersucht.

Von Martin Hubert | 11.08.2008
    Wer unfähig ist, seine eigenen Gefühle zu erkennen, hat auch Schwierigkeiten, Empathie gegenüber anderen Menschen zu entwickeln. Denn beides hängt mit der Unfähigkeit zusammen, innere Körperzustände angemessen zu identifizieren. Das zeigt eine neue Studie der Neuropsychologin Tania Singer von der Universität Zürich. Zusammen mit Wissenschaftlern des Londoner Wellcome-Instituts hat sie Menschen untersucht, die an der so genannten Alexithymie leiden, der Gefühlsblindheit. Singer:


    "Leute, die das sehr stark haben, können ihre Gefühle nicht verstehen, die sind total ärgerlich, haben einen roten Kopf und geballte Faust und wissen aber nicht, was sie fühlen. Und wenn man sie fragt ‚Was ist das: Ist das Ärger? Ist das Angst?‘, dann sagen sie, ‚Ich weiß, da passiert etwas in meinem Körper, aber ich habe keine Ahnung, was das ist‘."
    
Gefühlsblinde, so die Forscher, leiden an einem so genannten "interozeptiven Defizit": sie können die Vorgänge in ihrem eigenen Körper nicht mehr richtig wahrnehmen und beschreiben. Für diese innere Körperwahrnehmung ist eine Hirnregion namens "Insula" zuständig, die auch als "interozeptiver Cortex" bezeichnet wird. Singer:


    "Und unsere Hypothese, die wir aufgestellt haben auf Grund der Empathieforschung ist, dass im Gehirn die gleichen Areale, die aktiviert werden, um uns selbst zu verstehen - das nennen wir den interozeptiven Cortex, die Insula - dass die wieder reaktiviert werden, um andere zu verstehen. Also das Gehirn macht keinen Unterschied, ob es ein Modell für mich selbst simuliert oder für eine andere Person. Konsequenz müsste dann natürlich sein: Leute, die Alexithymie haben, die sehr stark also nicht wissen, was sie fühlen, die sollten eigentlich auch nicht empathisch sein können."

    Tania Singer testete diese Empathiereaktion bei sieben gefühlsblinden Patienten. Sie mussten zunächst Bilder mit starkem emotionalem Gehalt betrachten: mal positive Bilder eines lachenden Babys, mal negative Bilder einer Flugzeugkatastrophe und mal neutrale Bilder eines Hauses. Die Gefühlsblinden konnten diesen Bildern kaum die entsprechenden Gefühlswerte zuordnen, gleichzeitig zeigten Kernspinaufnahmen ihres Gehirns, dass ihre Insula im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe vermindert aktiv war. In einem weiteren Experiment sollten die Versuchspersonen dabei zusehen, wie ihr Partner einen leichten Elektroschock erhält. Gesunde Versuchspersonen entwickelten dabei ein großes Maß an Empathie: ein Teil ihrer Schmerzregion im Gehirn wurde aktiv, der die Eigenschaft von Spiegelneuronen besitzt. Die gesunden Probanden empfanden also einen Schmerz, als ob sie selbst einen Elektroschock erhalten hätte. Bei den Gefühlsblinden jedoch war das nicht so. Mehr noch: Es zeigte sich eine direkte Verbindung zwischen dem Ausmaß ihrer Krankheit und ihrer mangelnden Empathie. Singer:

    "Also um so stärker alexithymisch, desto weniger Empathie und beides hängt mit weniger Aktivierung im interozeptiven Cortex zusammen, wenn man denen Aufgaben gibt, wo sie entweder Auskunft über ihre eigenen Gefühle geben müssen oder eben empathisch mit dem Schmerz einer anderen Person mitleiden müssen."

    Tania Singers Folgerung: Empathie ist offenbar auf eine intakte innere Körperwahrnehmung angewiesen. Wer nicht erkennen kann, welche Emotionen im eigenen Körper entstehen, der kann auch die Gefühle anderer nicht verstehen. In künftigen Studien will die Zürcher Forscherin erkunden, ob dieser Befund auch für andere Gefühlskrankheiten gilt.