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Empathie für das Motiv Mensch

Die Schweizerin Sabine Weiss ist Vertreterin der sogenannten Photographie humaine - sie zeigt Menschen ohne den distanzierten Blick des Porträtisten. Die Bilder der Grande Dame der Fotografie seien "unglaublich erzählerisch", schwärmt unsere Kritikerin Christiane Vielhaber.

Christiane Vielhaber im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Burkhard Müller-Ullrich: Christiane Vielhaber erklärt uns jetzt, was humanistische Fotografie ist oder sein soll. Sie erklärt uns das anlässlich – das sage ich schnell noch vorneweg – einer Ausstellung, über die wir jetzt sprechen, im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen, das ist eine Fotoausstellung mit Werken von Sabine Weiss. Gleich werden wir über Sabine Weiss sprechen, aber ich bin über diesen Begriff "humanistische Fotografie" gestolpert, das ist ja komisch!

    Christiane Vielhaber: Dieses Stolpern teilen wir. Es ist geprägt worden in den 50er-Jahren in Frankreich, und Photographie humaine kann man bei uns eigentlich kaum übersetzen. Man könnte vielleicht sagen, es sind empathische Bilder vom Menschen, und im Hinterkopf muss man dann haben, dass 1955 Edward Steichen diese berühmte Fotoausstellung im Museum für Modern Art in New York gemacht hat unter dem Titel "Family of Man", und das waren Fotografien aus der Nachkriegszeit in Europa, wo die Menschen einfach ... Ja, sie wollten überleben, sie waren froh, dass die Besatzung vorbei war, und diese Fotos sind ja fast, fast alle aus Europa und ganz viele auch mit Kindern. Und das Kinderlachen, was eben überall in der Welt gleich war. Aber was sie auszeichnet, ist wirklich eine Empathie jetzt im Gegensatz zu einer distanzierten Fotografie oder zu einer distanzierten Porträtkunst. Und diese Ausstellung in Aachen handelt nur von Menschen. Ausgeklammert wurde das, was sie gelernt hat in Paris bei Willy Maywald, einem berühmten deutschen Fotografen, der Modefotografie gemacht hat. Sie kommt aus der Schweiz, heißt eigentlich Sabine Weber, hat in der Schweiz auch Fotografie richtig von der Pike gelernt, hat dann bei Maywald Modefotografie gelernt. Sie war Auftragsfotografin für "Vogue", für diverse Magazine. Aber Sylvia Böhmer, die schon mehrere hervorragende Fotoausstellungen in Aachen gemacht hat, hat sich darauf beschränkt, die Fotografien zu zeigen, die in freier Arbeit entstanden sind, wo sie durch die Welt gereist ist und Menschen einfach aufgesucht hat, Menschen fotografiert hat, ganz alltägliche Situationen mit Menschen, aber dann doch immer der Versuch, das Besondere zu finden.

    Müller-Ullrich: Ich höre Menschen, ich höre Alltag, ich höre Paris, ich höre die 50er-Jahre, ich denke an Robert Doisneau mit dem berühmten Kuss, nicht wahr, die berühmte Kussszene vor dem Pariser Rathaus. Ist das so in diesem Stil?

    Vielhaber: Ein bisschen da. Ich gestehe, ich hatte von ihr noch nie was gehört, und beim Durchgang durch diese Ausstellung und später auch beim Durchblättern des Kataloges habe ich immer dieses Déjà-vu gehabt, das ist Doisneau, das ist Brassai, das ist ein bisschen das, aber das ist die Zeit. Es liegt daran, es ist Schwarz-Weiß-Fotografie und sie sagt selber auch, dieses Stimmungsvolle, was es zum Beispiel in den 50er-, 60er-Jahren in Paris gegeben hat, das gibt es heute nicht mehr, wir haben Kat, also Abgase oder so was gibt es nicht mehr in den Straßen, was das so hübsch gemacht hat. Es gibt zum Beispiel ein hinreißendes Foto, wo ein Mann in Paris abends in der Allee, in einer Allee steht, es ist duster, es ist nebelig, und der zündet sich eine Zigarette an. Das ist auch wie ein Filmstill, das könnte auch von Georges Simenon oder in einem Film von Georges Simenon sein. Wir haben auch ein küssendes Paar, Sie haben unten im Dunkeln das Restaurant und oben wohnen offenbar Menschen und ein Paar umarmt sich. Aber es ist bei ihr niemals gestellt wie dieses berühmte Foto von Doisneau, was ja mit Schauspielern war.

    Müller-Ullrich: Sie sagt, sagten Sie, Christiane Vielhaber, gerade über Sabine Weiss. Sie sagt, weil sie ja noch lebt. Sie ist 87, glaube ich?

    Vielhaber: Ja.

    Müller-Ullrich: Und sie ist auch aufgetreten bei der Vernissage zumindest?

    Vielhaber: Sie muss am Abend der Eröffnung gekommen sein, da war aber ich schon nicht mehr da.

    Müller-Ullrich: Sie lehnt ja den Künstlerstatus, habe ich irgendwo gelesen, ein bisschen ab, weil es für sie darauf ankommt, nicht zu schaffen im Sinne von Schöpfung, sondern nur zu zeugen. So ein bescheidener Gestus, ist das mehr das Schweizerische oder ist das auch wirklich eine fotografische Haltung?

    Vielhaber: Ich denke, es ist ein sehr bescheidener Gestus. Sie sagt, I'm professional, professionelle, je suis une professionnelle, was auch immer man darunter verstehen mag. Wenn Sie die Fotos sehen, dann denken Sie erst mal, es ist so unglaublich erzählerisch, so zum Beispiel zwei Nonnen in einer Telefonzelle und die eine Nonne lacht so, und dann denken Sie natürlich, die telefoniert jetzt mit dem lieben Gott, was wollen Sie anderes denken! Aber wenn Sie genau hingucken, dann sehen Sie, dass sie einen grandiosen Blick für Komposition hat! Mal kurz ein Bild: Es ist in Saintes-Maries-de-la-Mer entstanden, wo sich die Zigeuner – das darf man auch nicht mehr sagen, aber was soll ich jetzt sagen – jährlich treffen, und dann sehen Sie ein kleines Mädchen, was tanzt. Und links im Bild sehen Sie die Gitarrenspieler und die Gitarrenhälse gehen nach rechts oben, diagonal durchs Bild und auf der anderen Seite fängt sie an zu tanzen und sie hat den rechten Arm hoch und den linken in die Hüfte gestemmt. Und so haben Sie so ein Dreieck und das macht dieses Mädchen natürlich nicht aus Absicht oder so, aber es ist eben die Fotografin, die diesen Blick dafür hat. Oder zwei Frauen, die ihre Wäsche waschen in Portugal, die eine sitzt links am Wasser, die andere rechts, beide haben synchron einen Bottich, beide haben diese Kreise im Wasser und mittendrin ist ein Baum.

    Müller-Ullrich: Jetzt haben wir's begriffen, Gestaltungswille von Sabine Weiss. Die Fotografien sind im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen zu sehen und für uns hat sie Christiane Vielhaber angeschaut. Herzlichen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Informationen zur Ausstellung:
    Suermondt-Ludwig-Museum