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Empathie für das schwierige Gegenüber

Das Berufsleben von Hans Otto Bräutigam stand ganz im Zeichen der deutschen Teilung. Doch just in dem Moment, als die Mauer tatsächlich fiel, war er nicht mehr in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, denn seit Januar 1989 arbeitete er als Botschafter bei den Vereinten Nationen in New York. Vom Fall der Mauer erfuhr Hans Otto Bräutigam schließlich aus dem amerikanischen Radio.

Von Jacqueline Boysen |
    "Ich glaube, wenn wir gemeinsam hinwirken entsprechend dem Kommuniqué, das wir nunmehr in Bonn unterzeichnet haben und in Verbindung damit eine weitere friedliche, dann wird auch der Tag kommen, an dem Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern Grenzen uns vereinen - so wie die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen uns vereint."

    Grenzen, die vereinen?! Als der Partei- und Staatsratsvorsitzende Erich Honecker diesen Satz bei seinem Besuch im Saarland aussprach, stand Hans Otto Bräutigam, der Ständige Vertreter der Bundesrepublik ganz dicht neben ihm - und obwohl er, der westdeutsche Diplomat, der DDR gegenüber sehr viel Verständnis aufbringt, - soviel, dass sein Urteil über die Diktatur auch heute noch milde ausfällt - diesen Satz kann auch Bräutigam nicht entschlüsseln.

    Erich Honecker hatte bei seinem Besuch in der Bundesrepublik 1987 erreicht, woran ihm so sehr gelegen war: Der um Anerkennung barmende Staatsratsvorsitzende der DDR wird vom Bundespräsidenten in Bonn empfangen. Erich Honecker war kein Staatsgast, getreu der Präambel des Grundgesetzes erkannte die Bundesregierung seinen Staat auch fünfzehn Jahre nach dem Grundlagenvertrag nicht an. Dem ungeliebten Generalsekretär der SED wurden am Rhein dennoch alle protokollarischen Ehren zuteil. Seit an Seit schritten Bundeskanzler Helmut Kohl und sein kommunistischer Gast eine Ehrenformation der Bundeswehr ab. Honecker, der Freund des Zeremoniells, grüßte stolz die Fahne seines Gastlandes, das ihm für seine Westreise einen "Ehrenbegleiter" an die Seite gestellt hatte: Hans Otto Bräutigam, dessen umfangreiche Memoiren nun vorliegen.

    Der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der DDR - wie sie offiziell heißen musste - war dem Generalsekretär längst bekannt: Bereits unter Willy Brandt war Bräutigam in Staatsdiensten und in die Verhandlungen um die neue Ostpolitik involviert, 1974 zog der Jurist als kundiger und stets überkorrekter Wegbereiter nach Ost-Berlin und baute dort unter schwierigsten Bedingungen die westdeutsche Vertretung in der Hauptstadt der DDR mit auf.

    "Ich kam mit einigen theoretischen Kenntnissen 1974 in die DDR, eine konkrete Vorstellung von dem Leben dort hatte ich nicht. Im Laufe der Jahre habe ich ein sehr viel differenzierteres Bild bekommen, wenn ich zum Beispiel an das Kulturleben denke, das in manchen Bereichen wirklich ein sehr hohes Niveau hatte, oder wenn ich an das Gemeinschaftsgefühl in den Kirchengemeinden denke. Aber auch eine Solidarität in der Gesellschaft, in kleinen Gruppen, wie wir das im Westen gar nicht kannten. Eine Solidarität deshalb, weil die Menschen auf gegenseitige Unterstützung angewiesen waren."

    Hans Otto Bräutigam begann als Vertreter des Vertreters: Günter Gaus hauchte als erster Leiter der quasi-diplomatischen Einrichtung in Ost-Berlin dem komplexen deutsch-deutschen Experiment "Wandel durch Annäherung" Leben ein und setzte auch nach dem Rücktritt Willy Brandts fort, was dieser zusammen mit Egon Bahr Anfang der siebziger Jahre gegen erhebliche Widerstände im Westen begonnen hatte. Im zweiten deutschen Staat war die Reaktion auf die Eröffnung einer westdeutschen Vertretung zwiespältig: Erhofften sich die Bürger der DDR Beistand, fürchteten die offiziellen Stellen die Anwesenheit des Klassenfeinds in ihrer Hauptstadt. Und so wurde die Ständige Vertretung nicht nur argwöhnisch von der Staatssicherheit ins Visier genommen, sondern auch von ihren Ansprechpartnern im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR beim allerkleinsten Anlass gemaßregelt: Die SED, um nichts mehr als um ihre Souveränität besorgt, verbat sich strikt die Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten - und was sie darunter verstand, definierte die Staatspartei selbst.

    "Das hat uns in Wahrheit von Anfang an geärgert, dass wir uns mit der eigentlichen Problematik der deutsch-deutschen Beziehungen, nämlich dem System der DDR, nicht offen auseinandersetzen konnten, und dass wir bewusst auf eine konkrete Wiedervereinigungspolitik verzichtet haben. Es war damals fast schon ein geflügeltes Wort, kennzeichnete aber die Situation, das wir uns gesagt haben - bis zum Bundeskanzler hin, die Wiedervereinigung steht nicht auf der Tagesordnung. Daran haben wir uns gehalten. Und ich glaube immer noch, dass diese Zurückhaltung richtig war."

    Nach einem Intermezzo im Kanzleramt in Bonn hatte Hans Otto Bräutigam im Jahr 1982 als dritter Leiter der Ständigen Vertretung den Chefsessel von Klaus Bölling übernommen. Dessen Zeit in Ost-Berlin war eher glücklos geblieben und Bräutigam knüpfte an, wo Gaus aufgehört hatte. Er tat dies in der unbedingten Überzeugung, die deutsch-deutschen Beziehungen zum Wohle der Menschen verbessern und ein gesamtdeutsches Bewusstsein wach halten zu können. Von seiner Empathie für das schwierige Gegenüber profitierte die Bundesrepublik, vor allem aber die DDR.

    Der parteilose Beamte blieb auch nach dem Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl im Amt, erst zu Beginn des Jahres 1989 - noch bevor die DDR unter den Protesten ihrer Bürger zugrunde ging - verließ er den Posten an der Spree, um Botschafter bei den Vereinten Nationen zu werden.

    "Als ich dann den Ausbruch der friedlichen Revolution in New York erlebte, war ich einerseits unglaublich beeindruckt, ich hatte mir das so gar nicht vorstellen können, ich war ein bisschen traurig, es nicht aus der Nähe erleben zu können."

    Obgleich die Vertretung in Ost-Berlin siebzehn deutsch-deutsche Verträge über die Transitwege, den Postverkehr oder auch den Kulturaustausch aushandelte - in viele sensible Fragen war sie bewusst nicht eingeschaltet: die Verhandlungen um den Häftlingsfreikauf, die Familienzusammenführung oder die Milliardenkredite liefen auf diskreten Wegen über Rechtsanwalt Vogel oder den Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski an der Ständigen Vertretung vorbei. Vor allem aber wahrte das Gros der westdeutschen Beamten in Ost-Berlin Distanz zur Opposition. Bis heute hält Bräutigam daran fest: Er wollte weder die ohnehin stark gefährdeten Widerständler aus der Friedens- und Umweltbewegung gefährden, noch die Schließung der Einrichtung riskieren.
    Hans Otto Bräutigam ist ein Diplomat alter Schule, vornehm, zurückhaltend, auch nachdenklich und vor allem präzise. Und so schildert der 78-Jährige in einer Art deutsch-deutschem Lesebuch das innerdeutsche Geschehen vom Beginn der Ostpolitik bis zum Ende der DDR aus Insider-Sicht. Doch erstens ist sein Urteil über die Diktatur immer noch von allerhöchster Zurückhaltung geprägt und zweitens scheut er sich, allzu persönlich zu werden. Seine Anekdoten sind das Salz in der Suppe, aber sie sind rar. Und obwohl Hans Otto Bräutigam heute einem Leser gegenübertritt, der durchaus über Schandtaten, über Unterdrückung und Unrecht informiert ist, vermeidet Bräutigam immer noch, Menschenrechtsverletzungen beim Namen zu nennen.

    Die Rolle des zurückhaltenden, verständnisinnigen Mittlers zwischen den ideologischen Welten gab Hans Otto Bräutigam wohl nur ein einziges Mal auf - ausgerechnet während des Besuchs von Erich Honecker in der Bundesrepublik, beim Landeanflug auf München, mit dem Blick auf das prächtige Alpenpanorama.

    In der Bundeswehrmaschine saß ich Honecker direkt gegenüber. Jetzt, nach vier Tagen, wirkte er doch etwas müde. Bisher hatte er das anspruchsvolle Besuchsprogramm konzentriert absolviert, peinlich darauf bedacht, keine Emotionen zu zeigen und deshalb auch in einer ständigen Anspannung.

    Ohne irgendeinen Hintergedanken fragte ich Honecker: "Herr Generalsekretär, kennen Sie eigentlich die bayerischen Alpen?" Er stutzte, antwortete aber nicht. Vielleicht hatte er die bayerischen Alpen nie gesehen, wollte das aber nicht sagen. Dann ritt mich - ich weiß nicht, warum - der Teufel. Mit ironischem Unterton sagte ich: "Wenn Deutschland denn schon geteilt ist, was ich persönlich sehr bedauere, Herr Generalsekretär, dann muss man doch feststellen, dass es nicht gerecht geteilt worden ist. Ein Stück Alpen hätten auch die Ostdeutschen bekommen müssen."


    In der vergangenen Woche sind seine Erinnerungen erschienen: "Ständige Vertretung - Meine Jahre in Ost-Berlin". Jacqueline Boysen stellt das Buch vor.