Im Herbst 2000 wurde George W. Bush zum Sieger der Präsidentenwahlen in den Vereinigten Staaten erklärt. Hinweise auf Manipulationen im Staat Florida, in dem Bushs Bruder "Jeb" Gouverneur war, waren vorausgegangen. Und was machten die Amerikaner? Nach ein wenig Aufregung gingen sie zur Tagesordnung über.
Die Ereignisse scheinen Colin Crouch keine Ruhe gelassen zu haben. Der britische Politikwissenschaftler der Universität Warwick nahe Birmingham fragt sich: Warum formierte sich kein kraftvoller öffentlicher Protest, vergleichbar der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre? Warum gab sich eine der ältesten Demokratien der Welt so kampflos selbst auf? Was war aus der Demokratie geworden, die in der Watergate-Affäre noch einen Präsidenten zur Amtsaufgabe hatte zwingen können?
Ja, das waren noch Zeiten - damals. Crouch betrachtet die Jahre von 1940 bis 1975 als einen "demokratischen Augenblick", als "ein wahrhaft demokratisches Interregnum". In diesen Jahrzehnten sicherte die Wirtschaft "im Zyklus von Massenproduktion und -konsum permanent die Grundlagen der Demokratie", sorgten sich aktive Staatsbürger im Verbund mit kritischen Medien um Demokratie und Freiheit, sicherte der Staat in Kooperation mit den Gewerkschaften durch keynesianische und sozialstaatliche Politik die Wohlfahrt der Bürger.
Das alles - so Crouch - gilt heute nicht mehr. Die Präsidentschaftswahl 2000 habe gezeigt, wie stark das Interesse der Öffentlichkeit an Politik abgenommen habe, wie desillusioniert die Bürger das Treiben ihrer politischen Eliten inzwischen verfolgen. An die Stelle einer partizipatorischen Demokratie ist das Modell einer "liberalen" Demokratie getreten.
"Bei diesem Konzept der Demokratie stehen folgende Aspekte im Vordergrund: die Wahlbeteiligung als wichtigster Modus der Partizipation der Massen, große Spielräume für Lobbyisten – wobei darunter vor allem die Lobbys der Wirtschaft verstanden werden – und eine Form der Politik, die auf Interventionen in die kapitalistische Ökonomie weitgehend verzichtet. Für die wirkliche, umfassende Beteiligung der Bürger und die Rolle von Organisationen außerhalb des Wirtschaftssektors interessieren sich die Befürworter des Modells allenfalls am Rande."
Das aber ist in den Augen Crouchs keine Demokratie mehr. Nach seinem Urteil ist das Zeitalter der Demokratie vorbei, hat das der Postdemokratie begonnen. Postdemokratie heißt nicht, dass wir in einem nichtdemokratischen Staat leben. Es gibt weiterhin Wahlen, ein Mehrparteiensystem, Demonstrations- und Pressefreiheit. Doch unter den Bedingungen der globalisierten Ökonomie und unter der Vormacht multinationaler Konzerne ist das alles nur noch Staffage, Kulisse für eine ausgehöhlte Hülle, die nur noch den Namen Demokratie trägt.
"Während des demokratischen Augenblicks war ein populäres Anliegen besonders wichtig: Die Macht der Regierung sollte genutzt werden, um die Konzentration privater Macht zu begrenzen. Wenn nun in der Gegenwart eine Atmosphäre des Zynismus gegenüber der Politik und den Politikern herrscht, wenn die Erwartungen an ihre Leistungen zurückgehen und Stimmen laut werden, die eine strikte Beschränkung ihres Einflussbereichs und ihrer Macht fordern, so spielt das denjenigen in die Hände, die den aktiven Staat – wie wir ihn aus dem Zeitalter des Wohlfahrtsstaats und des Keynesianismus kennen – zügeln wollen, um gerade diese private Macht freizusetzen und sie von Regulierungen zu befreien."
An die Stelle der Herrschaft des Volkes ist nach Auffassung des britischen Politikwissenschaftlers die "wachsende politische Macht der Unternehmen" getreten. Sie sind die "treibende Kraft hinter dem Vormarsch der Postdemokratie". Durch aggressiven Lobbyismus münzen die Konzerne wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss um. Mit der Drohung, ihr Unternehmen zu verlagern, falls Zugeständnisse ausbleiben, setzen sie ihren Willen durch, bestimmen sie über die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Dem setzten Staat und Politik nicht nur wenig entgegen. Sie versuchen ganz im Gegenteil, sich selbst zu Unternehmen zu wandeln. Frühere Staatsbetriebe wie Post, Bahn oder Energieversorgung sind weitgehend privatisiert. Sie befolgen heute die Regeln des Marktes, und wenn die Shareholder es verlangen, werden Bahnstrecken stillgelegt und Postfilialen geschlossen. Den Reichen kümmert es wenig, der Arme aber verliert den Anschluss.
Unter dem Diktat des ökonomischen Paradigmas fehlt es dem Staat an Kraft und Willen, seine Schutzfunktion für die Schwachen angemessen wahrzunehmen.
"Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens."
Doch nicht nur Staat und Politik versagen. Mindestens in gleicher Weise sind, so die Einschätzung von Crouch, die Medien verantwortlich zu machen. Auch sie haben sich dem ökonomischen Paradigma unterworfen, gestalten die politische Berichterstattung nach den Regeln der kommerzialisierten Unterhaltung. Sie haben ihren Anteil daran, dass der Konsument über den Staatsbürger gesiegt hat, dass die politische Kommunikation zwischen Bürger und Staat zusammengebrochen ist.
Das Vakuum füllen wieder die Konzerne. Aufgrund ihrer Ressourcen sind sie viel kampagnefähiger als jede Initiative, die die Zivilgesellschaft auf die Beine stellen könnte. Als Folge wendet sich ein gelangweiltes, frustriertes und desillusioniertes Publikum von Politkern und Politik ab. Diese versuchen verzweifelt, dessen Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Dabei treiben sie die Banalisierung der Politik weiter voran.
Ein Teufelskreis, denn dadurch verlieren sie weiter an Glaubwürdigkeit und Autorität. In dieser verzweifelten Situation sind die Parteien anfällig, gänzlich in das Fahrwasser der großen Konzerne zu geraten. Besonders dramatisch, wenn auch nicht paradigmatisch, ist das Beispiel der Partei des italienischen Regierungschefs Silvio Berlusconi.
"Forza Italia ist ihrem Wesen nach ein Unternehmen bzw. ein Netzwerk von Unternehmen, keine Parteiorganisation klassischen Typs; sie ging nicht aus einer gesellschaftlichen Gruppe hervor, die ihre Interessen formulierte, sondern wurde von Beginn an gezielt von Teilen der bestehenden politischen und finanziellen Elite aufgebaut."
Bis heute dient die Partei dem Medienunternehmer Silvio Berlusconi dazu, Politik und Unternehmensinteressen in ungeahnter Weise miteinander zu vermengen.
Crouchs Diagnose ist nicht neu. Selten wird sie aber mit solcher Emphase vorgetragen. Ein polemisches Essay darf überzeichnen, es darf im Urteil über das Ziel hinausschießen, was Crouch mehr als nur einmal tut. Im Gegenzug gelingt es ihm aber, den Leser zu fesseln, ihn aufzurütteln. Aber kann er auch überzeugen? Nicht restlos.
Crouchs Essay ist als anregende und spannend zu lesende Zeitdiagnose zu empfehlen. Es weist auf fragwürdige Entwicklungen hin, appelliert zu Recht an die Verantwortung aller Akteure. Aber sein Text ist zwiespältig. Das proklamierte "goldene Zeitalter" ist Crouchs Maßstab für seine Diagnose. Doch so golden war das Zeitalter nicht.
Und noch wichtiger: Seine Voraussetzungen sind vergangen: eine starke Bindungskraft von Parteien oder Kirchen, ein dominierender industrieller Sektor mit einer klassenbewussten Arbeiterschaft, starke Gewerkschaften, eine vergleichsweise homogene Gesellschaft.
Crouch vermittelt über weite Strecken den Eindruck, dass die Rückkehr zum goldenen Zeitalter die eigentliche wünschenswerte Lösung sei. Doch das ist weder schlüssig noch möglich, wie Crouch an anderen Stellen wiederum implizit eingesteht.
Die fragmentierte Massengesellschaft des 21. Jahrhundert verlangt nach ihren eigenen Verfahren und Institutionen der Vermittlung zwischen den Sphären von Wirtschaft, Staat und Politik. Welche, das muss die Postdemokratie selbst herausfinden, auch wenn ihr Crouch das nicht zutrauen will. Seine Lösungsansätze überzeugen jedenfalls nicht.
Colin Crouch: Postdemokratie
Edition Suhrkamp, 159 Seiten, 10 Euro
Die Ereignisse scheinen Colin Crouch keine Ruhe gelassen zu haben. Der britische Politikwissenschaftler der Universität Warwick nahe Birmingham fragt sich: Warum formierte sich kein kraftvoller öffentlicher Protest, vergleichbar der Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre? Warum gab sich eine der ältesten Demokratien der Welt so kampflos selbst auf? Was war aus der Demokratie geworden, die in der Watergate-Affäre noch einen Präsidenten zur Amtsaufgabe hatte zwingen können?
Ja, das waren noch Zeiten - damals. Crouch betrachtet die Jahre von 1940 bis 1975 als einen "demokratischen Augenblick", als "ein wahrhaft demokratisches Interregnum". In diesen Jahrzehnten sicherte die Wirtschaft "im Zyklus von Massenproduktion und -konsum permanent die Grundlagen der Demokratie", sorgten sich aktive Staatsbürger im Verbund mit kritischen Medien um Demokratie und Freiheit, sicherte der Staat in Kooperation mit den Gewerkschaften durch keynesianische und sozialstaatliche Politik die Wohlfahrt der Bürger.
Das alles - so Crouch - gilt heute nicht mehr. Die Präsidentschaftswahl 2000 habe gezeigt, wie stark das Interesse der Öffentlichkeit an Politik abgenommen habe, wie desillusioniert die Bürger das Treiben ihrer politischen Eliten inzwischen verfolgen. An die Stelle einer partizipatorischen Demokratie ist das Modell einer "liberalen" Demokratie getreten.
"Bei diesem Konzept der Demokratie stehen folgende Aspekte im Vordergrund: die Wahlbeteiligung als wichtigster Modus der Partizipation der Massen, große Spielräume für Lobbyisten – wobei darunter vor allem die Lobbys der Wirtschaft verstanden werden – und eine Form der Politik, die auf Interventionen in die kapitalistische Ökonomie weitgehend verzichtet. Für die wirkliche, umfassende Beteiligung der Bürger und die Rolle von Organisationen außerhalb des Wirtschaftssektors interessieren sich die Befürworter des Modells allenfalls am Rande."
Das aber ist in den Augen Crouchs keine Demokratie mehr. Nach seinem Urteil ist das Zeitalter der Demokratie vorbei, hat das der Postdemokratie begonnen. Postdemokratie heißt nicht, dass wir in einem nichtdemokratischen Staat leben. Es gibt weiterhin Wahlen, ein Mehrparteiensystem, Demonstrations- und Pressefreiheit. Doch unter den Bedingungen der globalisierten Ökonomie und unter der Vormacht multinationaler Konzerne ist das alles nur noch Staffage, Kulisse für eine ausgehöhlte Hülle, die nur noch den Namen Demokratie trägt.
"Während des demokratischen Augenblicks war ein populäres Anliegen besonders wichtig: Die Macht der Regierung sollte genutzt werden, um die Konzentration privater Macht zu begrenzen. Wenn nun in der Gegenwart eine Atmosphäre des Zynismus gegenüber der Politik und den Politikern herrscht, wenn die Erwartungen an ihre Leistungen zurückgehen und Stimmen laut werden, die eine strikte Beschränkung ihres Einflussbereichs und ihrer Macht fordern, so spielt das denjenigen in die Hände, die den aktiven Staat – wie wir ihn aus dem Zeitalter des Wohlfahrtsstaats und des Keynesianismus kennen – zügeln wollen, um gerade diese private Macht freizusetzen und sie von Regulierungen zu befreien."
An die Stelle der Herrschaft des Volkes ist nach Auffassung des britischen Politikwissenschaftlers die "wachsende politische Macht der Unternehmen" getreten. Sie sind die "treibende Kraft hinter dem Vormarsch der Postdemokratie". Durch aggressiven Lobbyismus münzen die Konzerne wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss um. Mit der Drohung, ihr Unternehmen zu verlagern, falls Zugeständnisse ausbleiben, setzen sie ihren Willen durch, bestimmen sie über die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Dem setzten Staat und Politik nicht nur wenig entgegen. Sie versuchen ganz im Gegenteil, sich selbst zu Unternehmen zu wandeln. Frühere Staatsbetriebe wie Post, Bahn oder Energieversorgung sind weitgehend privatisiert. Sie befolgen heute die Regeln des Marktes, und wenn die Shareholder es verlangen, werden Bahnstrecken stillgelegt und Postfilialen geschlossen. Den Reichen kümmert es wenig, der Arme aber verliert den Anschluss.
Unter dem Diktat des ökonomischen Paradigmas fehlt es dem Staat an Kraft und Willen, seine Schutzfunktion für die Schwachen angemessen wahrzunehmen.
"Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zulässt, dass diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens."
Doch nicht nur Staat und Politik versagen. Mindestens in gleicher Weise sind, so die Einschätzung von Crouch, die Medien verantwortlich zu machen. Auch sie haben sich dem ökonomischen Paradigma unterworfen, gestalten die politische Berichterstattung nach den Regeln der kommerzialisierten Unterhaltung. Sie haben ihren Anteil daran, dass der Konsument über den Staatsbürger gesiegt hat, dass die politische Kommunikation zwischen Bürger und Staat zusammengebrochen ist.
Das Vakuum füllen wieder die Konzerne. Aufgrund ihrer Ressourcen sind sie viel kampagnefähiger als jede Initiative, die die Zivilgesellschaft auf die Beine stellen könnte. Als Folge wendet sich ein gelangweiltes, frustriertes und desillusioniertes Publikum von Politkern und Politik ab. Diese versuchen verzweifelt, dessen Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Dabei treiben sie die Banalisierung der Politik weiter voran.
Ein Teufelskreis, denn dadurch verlieren sie weiter an Glaubwürdigkeit und Autorität. In dieser verzweifelten Situation sind die Parteien anfällig, gänzlich in das Fahrwasser der großen Konzerne zu geraten. Besonders dramatisch, wenn auch nicht paradigmatisch, ist das Beispiel der Partei des italienischen Regierungschefs Silvio Berlusconi.
"Forza Italia ist ihrem Wesen nach ein Unternehmen bzw. ein Netzwerk von Unternehmen, keine Parteiorganisation klassischen Typs; sie ging nicht aus einer gesellschaftlichen Gruppe hervor, die ihre Interessen formulierte, sondern wurde von Beginn an gezielt von Teilen der bestehenden politischen und finanziellen Elite aufgebaut."
Bis heute dient die Partei dem Medienunternehmer Silvio Berlusconi dazu, Politik und Unternehmensinteressen in ungeahnter Weise miteinander zu vermengen.
Crouchs Diagnose ist nicht neu. Selten wird sie aber mit solcher Emphase vorgetragen. Ein polemisches Essay darf überzeichnen, es darf im Urteil über das Ziel hinausschießen, was Crouch mehr als nur einmal tut. Im Gegenzug gelingt es ihm aber, den Leser zu fesseln, ihn aufzurütteln. Aber kann er auch überzeugen? Nicht restlos.
Crouchs Essay ist als anregende und spannend zu lesende Zeitdiagnose zu empfehlen. Es weist auf fragwürdige Entwicklungen hin, appelliert zu Recht an die Verantwortung aller Akteure. Aber sein Text ist zwiespältig. Das proklamierte "goldene Zeitalter" ist Crouchs Maßstab für seine Diagnose. Doch so golden war das Zeitalter nicht.
Und noch wichtiger: Seine Voraussetzungen sind vergangen: eine starke Bindungskraft von Parteien oder Kirchen, ein dominierender industrieller Sektor mit einer klassenbewussten Arbeiterschaft, starke Gewerkschaften, eine vergleichsweise homogene Gesellschaft.
Crouch vermittelt über weite Strecken den Eindruck, dass die Rückkehr zum goldenen Zeitalter die eigentliche wünschenswerte Lösung sei. Doch das ist weder schlüssig noch möglich, wie Crouch an anderen Stellen wiederum implizit eingesteht.
Die fragmentierte Massengesellschaft des 21. Jahrhundert verlangt nach ihren eigenen Verfahren und Institutionen der Vermittlung zwischen den Sphären von Wirtschaft, Staat und Politik. Welche, das muss die Postdemokratie selbst herausfinden, auch wenn ihr Crouch das nicht zutrauen will. Seine Lösungsansätze überzeugen jedenfalls nicht.
Colin Crouch: Postdemokratie
Edition Suhrkamp, 159 Seiten, 10 Euro