Mittwoch, 24. April 2024

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Empirische Sozialforschung
Sozialforscher: Mit Evaluation Coronamaßnahmen verbessern

Der Sozialforscher Reinhard Stockmann plädiert für mehr Evaluation in der Corona-Pandemie, um die Wirksamkeit von Maßnahmen zu überprüfen. Er schlägt zum Beispiel vor, verschiedene Hygienekonzepte in Restaurants zu testen. Allerdings seien solche Experimente nun angesichts des exponentiellen Wachstums schwierig.

Reinhard Stockmann im Gespräch mit Arndt Reuning | 23.03.2021
Gestapelte Stühle eines Restaurants sind mit Absperrband umgeben.
Wo und wie genau steckt man sich an? Besonders gut erforscht ist das bislang nicht. (dpa-Bildfunk / Sebastian Gollnow)
Auch nach gut einem Jahr Pandemie in Deutschland wissen wir immer noch nicht genau, an welchen Orten sich die meisten Menschen mit Covid-19 anstecken - im Restaurant, beim Gottesdienst, in Bussen und Bahnen? Der Soziologe Reinhard Stockmann, Direktor des Centrum für Evaluation der Universität des Saarlandes glaubt, die Werkzeuge in der Hand zu halten, die hier Licht ins Dunkel bringen könnten, um zumindest teilweise Öffnungen wieder zu erlauben.
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Arndt Reuning: Professor Stockmann, was ist das für ein wissenschaftliches Instrument?
Reinhard Stockmann: Wir haben das Instrument in den Methoden der empirischen Sozialforschung, das wir Evaluation nennen. Bei der Evaluation geht es darum, dass man die Wirksamkeit von Maßnahmen, von sozialen Maßnahmen überprüft, um herauszufinden, einerseits ob die Maßnahmen wirken, zum anderen auch, um die Maßnahmen zu verbessern.
Genau hier, denke ich, könnte man dieses Instrument in vielen Fällen einsetzen, weil wir viel zu wenig wissen, wo sich die Menschen infizieren. Um ein Beispiel zu geben: Wenn Restaurants bestimmte Hygienekonzepte entwickeln, ließe sich mithilfe der Evaluation herausfinden, ob diese Hygienekonzepte etwas taugen, sprich, ob sich die Menschen bei dem Restaurantbesuch anstecken oder eben nicht anstecken.
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Wenn wir das wissenschaftlich geprüft haben, dann könnte man auf diese Art und Weise sogenannte Best-Practice-Beispiele identifizieren, also gute Beispiele, an denen man sieht, was wirkt, und dann gäbe es überhaupt keinen Grund mehr, diese Restaurants, die ein bestimmtes Hygienekonzept verwenden, zu schließen.
Im Grunde gilt das für alle Einrichtungen, die man sich vorstellen kann - Einzelhandel, Theater, Fußballstadien. Überall da könnte man testweise herausfinden, was bewirkt das eigentlich, wenn ein bestimmtes Konzept eingesetzt wird, und sind das eigentlich die Herde, in denen Infektionen eben verbreitet werden, oder sind es ganz andere.

Testpersonen und Nachverfolgung

Reuning: Man würde also gewisse Orte wie eben die Restaurants kontrolliert öffnen, und habe ich das richtig verstanden, nur für bestimmte Probandinnen und Probanden erst mal, um dann zu schauen, wie viele Menschen sich dort tatsächlich infizieren?
Stockmann: Man würde es wirklich wie in der Realität auch simulieren. Nehmen wir mal Restaurant A, das hat das eine Hygienekonzept, Restaurant B hat ein anderes Hygienekonzept, und wir würden einfach Menschen, die sich bereit erklären, einen solchen Gastronomiebesuch vorzunehmen und eben anschließend auch für eine wissenschaftliche Begleitung zur Verfügung stehen, öffnen.
Dann könnten wir die Gäste, die normalerweise auch in einem solchen Restaurant verkehren, die könnten dieses Restaurant besuchen. Dann müsste man eine Kontaktnachverfolgung anstellen, entweder indem man beispielsweise eine intelligente App nutzt oder indem man ein Kontakttagebuch anlegt, um festzustellen, mit wem die Menschen Kontakt haben, um sozusagen andere Infektionsquellen zu identifizieren oder um festzustellen, ist es tatsächlich der Restaurantbesuch gewesen oder der Theaterbesuch.
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Reuning: Wäre solch eine Methodik denn vergleichbar mit einer Impfstoffstudie, wo man ja auch darauf wartet, dass sich eine bestimmte Zahl von Menschen infiziert und dann die Gruppe der Geimpften vergleicht mit der Kontrollgruppe, die zum Beispiel eine andere etablierte Impfung erhalten hat oder eben auch nur eine Kochsalzlösung?
Stockmann: Genau. Im Grunde ist das ein sogenannter quasi-experimenteller Ansatz, der jetzt in unserem Falle allerdings ein paar methodische Schwächen hätte, weil wir würden die Leute nicht per Zufall auswählen – da müsste man also methodisch mit Selektionseffekten und so weiter rechnen –, aber all das wäre kein Problem. Im Grunde ist es so etwas wie ein experimenteller Ansatz, man versucht, Menschen unter kontrollierten Bedingungen an einer solchen Maßnahme teilnehmen zu lassen und dann zu schauen, was die Folgen sind. Genau das tun wir natürlich auch bei einer solchen Impfstudie.
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"Konzept in Deutschland noch nicht ausreichend verbreitet"

Reuning: Aber bei einer Impfstudie nehmen Zehntausende von Probandinnen und Probanden teil. Bräuchten Sie nicht auch eine große Zahl an Menschen, die dann an solch einem Realexperiment teilnehmen?
Stockmann: Ja, es kommt darauf an, inwieweit wir sozusagen unsere Ergebnisse jetzt generalisieren wollen. Wenn es sich beispielsweise um eine lokale oder städtische Begrenzung handeln würde, und sagen, wir wollen das herausfinden, ob das in der Stadt Mannheim, in der Stadt Saarbrücken funktioniert, dann brauchen wir natürlich weniger Testpersonen, als wenn wir sagen, wir wollen die Ergebnisse dann auf die ganze Bundesrepublik generalisieren.
Genau das tun wir natürlich bei Impfstudien. Da geht es ja nicht nur darum, dass dann der Impfstoff bei einer bestimmten Bevölkerung in einem Land wirkt, sondern generell bei allen Menschen. Dementsprechend müssen natürlich auch dann die Stichprobengrößen viel größer sein, als wenn wir entweder eine lokale Begrenzung, eine regionale Begrenzung oder eine nationale Begrenzung hätten.
Reuning: Warum gibt es denn solche Evaluierungsstudien für die Maßnahmen in der Pandemie noch nicht?
Stockmann: Das ist eine gute Frage, aber mir scheint das Konzept der Evaluation in Deutschland noch nicht ausreichend verbreitet zu sein. Es ist auch nicht so, dass wir nicht versucht hätten, das Konzept zu propagieren. Wir sind als Sozialwissenschaftler auch nicht die Einzigen. Schon im Spätjahr letzten Jahres hat die deutsche Ärzteschaft mehr Evaluationen gefordert – es gab eine Parlamentsdiskussion. Ich denke, es liegt vor allem daran, dass wir wie gesagt eine nicht sehr stark ausgeprägte Kultur haben. Auch ich hab beispielsweise auch an das Kanzleramt geschrieben, schon vor vielen Wochen, habe diese Vorschläge gemacht – ich hab bis heute keine Antwort darauf bekommen.

"Schwierig, jetzt mit Modellprojekten zu starten"

Reuning: Wenn wir uns die Situation anschauen, in der wir uns im Moment befinden, steigende Inzidenzen und ein sehr dynamisches Geschehen, könnte denn da überhaupt solch eine Methodik mit der aktuellen Situation und mit der Bewegung darin mithalten? Also wären die Ergebnisse nicht schon morgen wieder veraltet?
Stockmann: Ich glaube, das Einzige, was sozusagen die Ergebnisse zum Veralten bringt, sind die Mutationen, dann könnten diese Ergebnisse natürlich obsolet werden. Das Tragische ist letztendlich, dass wir eben jetzt wieder in der dritten Welle sind, uns wieder fragen, was gibt es für Alternativen, aber wir haben schon zwei Wellen hinter uns. Im Sommer letzten Jahres hätte man all dies mit entsprechender Sorgfalt tun können, während das jetzt natürlich bei einem exponentiellen Wachstum der Inzidenzen extrem schwierig ist, mit Modellprojekten zu starten.
Aber da wir diese Krise noch lange nicht überwunden haben, kann natürlich Evaluation auch dazu beitragen, auch jetzt noch Fehlerquellen zu entdecken oder – sagen wir mal positiver formuliert – Optimierungsbedarfe zu identifizieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.