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Ende der Ära Friedrich Schirmer

Die "Sehnsucht nach der theatralischen Wahrheit" hat Friedrich Schirmer kürzlich in einem Interview auf die Frage nach seiner Vision fürs Theater gesagt. Die muss er auch haben, denn mit dem Wechsel zum Schauspielhaus in Hamburg hat er das größte Sprechtheater Deutschlands zu füllen. Davor aber heißt es Bilanz ziehen nach zwölf Jahren in Stuttgart.

Von Christian Gampert | 20.07.2005
    Wenn einer 12 Jahre lang Intendant in derselben Stadt ist, zumal im Schwäbischen, dann gehört er fast zum Ortsbild wie der Oberbürgermeister und der Hauptbahnhof. Friedrich Schirmer steht für Kontinuität, und er hatte sich auch schon vorher ausgiebig in der Region umgetan: ab 1985 machte er aus der vorher betulichen Württembergischen Landesbühne Esslingen ein ehrgeiziges Theater, ab 1990 leitete er das Dreispartenhaus in Freiburg.

    An diesen Orten produzierte Schirmer zwei Mythen, von denen er heute noch zehrt: erstens, er sei ein "Stückeausgräber", ein so genanntes Trüffelschwein. Manche der von ihm ausgegrabenen Stücke lagen allerdings völlig zurecht im Keller. Zweitens: er sei der Herr der Kettenhunde, der "jungen Wilden", also jener ehrgeizigen Jungregisseure, die in ihren Inszenierungen mal so richtig auf die Stücke draufhauten.

    Dieser Ruf wie Donnerhall wurde auch in Stuttgart ausgiebig gepflegt: alles war immer furchtbar aufregend dort, ein hochmotiviertes Ensemble, das sich gar nicht vorstellen konnte, woanders zu arbeiten – seltsam nur, dass diese überbordende Kreativität in der Republik nur sehr peripher wahrgenommen wurde: eine einzige Einladung zum Theatertreffen bekam Stuttgart in den 12 Schirmer-Jahren, Elmar Goerdens famose, präzise, melancholische Inszenierung von Karl Philipp Moritz’ Erzählung "Blunt".

    Woran das liegt? Friedrich Schirmer ist ein Dickkopf: wen er liebt, den will er durchsetzen, auch wenn es in den Zeitungen ächzt und stöhnt. Und er hat leider die Gabe, immer wieder auch kleinere Schauspiel-Talente zu engagieren, wenn sie nur loyal zu ihm stehen. Was nicht heißt, dass zwischendurch auch mal große Aufführungen über die Bühne gehen: Jürgen Kruse inszenierte 1994 einen grandiosen "Richard II" mit Anne Tismer als Richard, ein androgyner Frauen-Kinder-König als Wüterich. Wüterich ist immer gut bei Schirmer. Aber Kruse ging dann nach Bochum.

    Schirmers neuer Liebling hieß Martin Kusej, ein in seinen Inszenierungen stets dunkel raunender, sich selbst mystifizierender Postmodernist. Kusej setzte zu Beginn der Stuttgarter Schirmer-Ära Grabbes kraftgenialischen "Herzog Theodor von Gothland" programmatisch düster in Szene, mit einem sinnlos nackt in einer Wanne brüllenden Manfred Meihöfer als Gothland. Später kaprizierte er sich auf bombastisches Bildertheater, Purcells "King Arthur" zum Beispiel, und machte dann anderswo Karriere.

    Schirmer aber hatte da bereits einen ganzen Pool handwerklich seriös arbeitender Jungregisseure beisammen – und das ist wirklich seine große Gabe: immer wieder zu motivieren, die richtigen Leute im Ensemble zusammenzubringen und anzuleiten. Stephan Kimmig, Christoph Loy, Christian Pade, Elmar Goerden, Hans-Ulrich Becker, Elias Perrig: das waren inszenatorisch und intellektuell verläßliche Größen.

    Im letzten Drittel der Intendanz war die Regie-Truppe dann nicht mehr ganz so stark: der Engländer Marc von Henning verlor sich in gewalttätigen Stilübungen, Sebastian Nübling erwies sich als freundlicher Chorleiter aus der klassikgestützten Fankurve (Motto: eine Idee, eine Inszenierung). Hasko Weber bot viel Durchwachsenes aus der alten DDR-Schule, machte aber mit einer wirklich großartigen "Peer Gynt"-Inszenierung auf sich aufmerksam – das reichte, um auf Schirmers Betreiben neuer Schauspielintendant zu werden.

    So sorgte der langjährige Potentat gleich noch für seinen Nachfolger; das nennt man Einfluß. Er selber zieht nun nach Hamburg, um das seit Jahrzehnten völlig unregierbare, weil viel zu große Schauspielhaus zu übernehmen, und offenbar verbindet er sein Schicksal mit dem seiner Lieblingsregisseurin Jacqueline Kornmüller.

    Das wird kaum gut gehen: Kornmüller war die ermüdendste Regie-Erscheinung der letzten Stuttgarter Schirmer-Jahre, eine Schaufenster-Dekorateuse, bei der alles schön aussieht, aber nur wenig mit dem Stück zu tun hat, es sei denn auf dem plattesten Level.

    Wir wollen, in der Sentimentalität des Abschieds, also nicht alles schönmalen; aber wir wollen Schirmer seine Dickköpfigkeit auch nicht nachtragen, mit der er bisweilen für die falsche Sache (und für die falschen Leute) streitet. Vermutlich ist Schirmer einer der besten Theaterleiter in Deutschland. Das möge er, so er will, noch länger bleiben.