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Ende der Kompromisskultur

Nach dem Scheitern des Brüsseler Gipfels muss neu über den künftigen Kurs der Europäischen Union beraten werden. Aus diesem Grund wollen sich die europäischen Spitzenpolitiker zunächst einmal eine Denkpause gönnen. Tatsächlich weiß niemand, wie es jetzt weitergehen soll. Anmerkungen dazu in der Europakolumne von Dirk Schümer, kulturpolitischer Europakorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

    Echternach ist ein Kleinstädtchen in Luxemburg, also mitten im Herzen Europas. Ein alter Brauch ist hier die Springprozession: drei Schritte voran, zwei Schritte zurück. Betrachtet man die Kompromisskultur der Europäischen Union, so sieht das Hin und Her von Fortschritt und Bremsen genau so aus, als hätten die Echternacher bei alldem Pate gestanden.

    Zunächst der Blick zurück: Beim Abblocken der Europäischen Verfassung per Referendum in Frankreich und den Niederlanden erlebten wir hautnah, was Europa eben nicht ist: Es ist keine weise Diktatur, die die Menschen zu ihrem Glück, also zu Internationalität und globaler Konkurrenzfähigkeit, zwingt. Solche historischen Versuche hat es ja gegeben, etwa bei Stalin, der die Modernisierung mit Gewalt durchsetzte und dabei Millionen über die Klinge springen ließ. Nein, es sind am Ende die Bürger, die das Tempo der Prozession bestimmen. Springen sie nicht mit, kommen auch Politiker und Bürokraten nicht voran. Sie müssen jetzt erst einmal ihre Hausaufgaben machen und die ungelösten Fragen, die die Verfassung verdrängt, besser klären.

    Nun, da der Geist einmal aus der Flasche ist, zeigen sich die Lebenslügen dieser europäischen Zweckgemeinschaft um so deutlicher. In Brüssel ist jetzt klar geworden, dass es so nicht weitergehen kann. Da ist zuerst die Finanzierung, die vor allem Briten und Niederländer jetzt dazu veranlassten, den Karren voll an die Wand fahren zu lassen. Dann gibt es die Taubheit der politischen Klasse, die bis heute der Frage aus dem Weg ging: Wo soll Europa eigentlich hin? Soll die EU Freihandelszone bleiben? Oder doch zur politischen Union werden? Derlei Grundsatzzweifel bleiben auch der europäischen Öffentlichkeit nicht verborgen. Sie schlugen voll auf die Volksbegehren in Frankreich und Holland durch. Dabei stehen Volksbefragungen wie diese für demokratische Rechtsstaatlichkeit, die innerhalb der Nationalstaaten über Jahrhunderte und durch Bürgerkriege errungen wurde. Es ist kein Makel des europäischen Projektes, sondern eine Auszeichnung, wenn ein effektives Zusammenleben der Nationen über solche Klippen der Legalität gehievt werden muss.

    Anstatt zu beklagen, dass der erste Brüsseler Gipfel nach dem Knall der Referenden nun den Knaller seines Scheiterns brachte, sollte man lieber etwas Atem schöpfen. Den immer eiligeren Galopp, den die Brüsseler Vorhut zuletzt mit Ost-Erweiterung, Marktliberalisierung und türkischem Beitritt anschlug, haben die Bürger mit guten Gründen erst einmal zum Trab gebremst. Auf lange Sicht besteht aber zu Europa keine Alternative, und das Springreiten von Hindernis zu Hindernis wird nun eben humpelnd weitergehen.

    Das alles dauert natürlich. Aber es geht sogar bei scheinbaren Katastrophen wie diesen europäischen Chaostagen voran, und zwar gerade durch den Streit ums große Ganze. Zum ersten Mal nämlich gab es bei den Referenden eine höhere Wahlbeteiligung zu europäischen Themen als bei nationalen Urnengängen. Europa wurde, darauf hat der Politologe Jeremy Rifkin klug hingewiesen, in diesen Tagen endlich zum Thema in den Cafes, auf den Märkten, in den Familien. Nur so, im Meinungsstreit, wird es langsam in den Herzen der Menschen heimisch werden. Man kann zur europäischen Kompromiss-Unfähigkeit stehen, wie man will, und man kann sich alles effektiver vorstellen. Aber es handelt sich um ein durch und durch demokratisches Kuddelmuddel, das Europa nun eben mühsam, langsam und mit viel Verhandeln und ohne die bisherigen Lebenslügen wieder auflösen muss. Nicht vergessen: Auf zwei Schritte zurück folgen drei Schritte vorwärts.