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Ende des Wohlstands

60 Jahre Kerneuropa - und immer stand Deutschland irgendwie im Mittelpunkt. Das ist der Standort, von dem aus Judt, Professor in New York, seine Forschungsreise ins Nachkriegseuropa seit 1945 unternimmt. Am Beginn des dritten Jahrtausends sind die Deutschen für die Welt nicht mehr so wichtig, damit hadern sie. Damit hadert aber auch das alte Europa, das am Ende einer Ära der Wohlstands- und Chancenorientierung steht - das ist eine zentrale These von Tony Judt. Die Kollegenzunft sieht das beeindruckende Tausend-Seiten-Kompendium zwiegespalten: Ist es nun eine "meisterliche Synthese", endlich mal eine "paneuropäische" Historiographie - wie Claus Leggewie sagt - oder eine zwar beeindruckende Materialsammlung, aber ohne roten Faden - wie Ute Frevert kritisiert? Armin Himmelrath hat sich seine eigene Meinung gebildet.

    1024 Seiten, 1210 Gramm - so schwergewichtig wie sein Thema kommt auch das Buch des Historikers Tony Judt daher. Nicht weniger als die Gesamtgeschichte Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute hat sich der New Yorker Geschichtsprofessor vorgenommen. Und um es gleich zu sagen: Es ist ein lesenswertes Monumentalwerk daraus geworden.
    Tony Judts Grundthese ist einfach. Sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und eineinhalb Jahrzehnte nach dem politischen Wandel in Osteuropa sei die Nachkriegszeit endgültig vorbei. Und das ist aus seiner Sicht der richtige Zeitpunkt, um mit liebgewordenen historischen Fehlurteilen aufzuräumen. Tony Judt schreibt:

    Das postnationale, sozialstaatliche, kooperative, friedfertige Europa erwuchs nicht aus dem ehrgeizigen, zukunftsweisenden Projekt, wie es heute im verklärenden Rückblick gern dargestellt wird. Europa war das verunsicherte Kind von Angst. Im Schatten der Geschichte führten die europäischen Politiker Sozialreformen durch und schufen neue Institutionen, um die Vergangenheit in Schach zu halten.
    Institutionen wie etwa die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft oder auch den von der Sowjetunion dominierten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Sie alle hatten das Ziel, Europa als Idee zu verankern - mal verklärt als sozialistische Bruderhilfe, mal als marktwirtschaftliches Erfordernis. Doch so unterschiedlich die Ideologien auch waren: Erstmals ging es nicht mehr nur um Nationalstaaten, sondern um europäische Internationalität.

    Der Erste Weltkrieg zerstörte das alte Europa, der Zweite schuf die Bedingungen für ein neues. (...) Seit 1989 ist klarer geworden, in welchem Maße die Stabilität Nachkriegseuropas auf den Taten Stalins und Hitlers beruhte. Diese beiden Diktatoren haben gemeinsam und mit tätiger Unterstützung diverser Kollaborateure während des Krieges das demographische Terrain eingeebnet, auf dem dann das Fundament zu einem neuen, weniger komplizierten Kontinent gelegt wurde.
    Ein Kontinent, dem Tony Judt mit seinem Buch erklärtermaßen eine gemeinsame Identität geben will. Doch dieser Anspruch des englisch-amerikanischen Historikers stößt bei seinen kontinentaleuropäischen Kollegen auf Skepsis. Jürgen Elvert ist Professor für Geschichte an der Universität zu Köln:

    "Wie soll eine europäische Identität aussehen? Man könnte sich sicherlich an einige Begriffe erinnern, die immer wieder auftauchen in den einschlägigen Dokumenten, auch dem europäischen Verfassungsvertrag. Grundrechte beispielsweise, Menschenrechte - aber das sind alles sehr abstrakte Begriffe. Und für eine Identität, die von den Menschen gelebt wird, vertreten wird, sozusagen auch akzeptiert worden ist, genügt das meines Wissens nicht."
    Trotzdem bescheinigt Jürgen Elvert dem Buch von Tony Judt einen im Grunde richtigen methodischen Ansatz: Die Idee nämlich, dass europäische Geschichte viel mehr ist als nur die Addition einzelner Nationalgeschichten.

    "Das eine ist eher eine Hinwendung zu den geografischen Aspekten, das andere ist eine Hinwendung zu den ideellen Aspekten, im Sinne tatsächlich dann wiederum der Frage: Gibt es so etwas wie eine kollektive europäische Identität, der wir irgendwo dienen müssen oder die wir quasi weiter ausbauen müssen?"
    Judt liefert in seinem Buch jede Menge Hinweise und Belege dafür, warum es sich lohnt, sowohl in geografischer als auch in kultureller Hinsicht über den eigenen, nationalen Tellerrand hinauszublicken. Verbindendes, auch über den Eisernen Vorhang hinweg, entdeckt er in allen Epochen seit 1945. Ein Beispiel:

    Was Europa wirklich einte, war der Fußball.
    Und zwar vor allem das breite Interesse an dieser Sportart - sowohl bei der Bevölkerung in Ost und West als auch bei den Herrschenden in beiden politischen Systemen. Denn Fußball war immer mehr als nur der reine sportliche Wettkampf. Er war auch Projektionsfläche für Politik und Gesellschaft, sagt der Bonner Historiker Dittmar Dahlmann, Spezialist für osteuropäische Sportgeschichte:

    "Er spielte dann eben im sozialistischen System eine ganz entscheidende Rolle. Er wurde vom System benutzt, um von den Widrigkeiten des alltäglichen Lebens abzulenken. Es gab eine sehr starke und intensive Förderung des Fußballsports, und er ist gerade von ungarischer Seite aufgrund der zahlreichen Erfolge von der Regierung entsprechend auch ideologisch ausgeschlachtet worden."
    Was wiederum zu Interesse auch im Westen führte - und dazu, dass der Kampf um Fußballsiege hier ebenso mit politischer Bedeutung aufgeladen wurde wie im Osten. Und diese Aufladung hatte konkrete politische Folgen - etwa nach dem WM-Endspielsieg der deutschen Mannschaft neun Jahre nach Kriegsende, dem so genannten Wunder von Bern.

    "Mit der Niederlage 1954, die ja für die Ungarn, und nicht nur für sie, sondern für viele andere auch, sehr überraschend kam, ist dieses Gebäude gleichsam nach anderthalb Stunden in sich zusammengebrochen und hat zu entsprechenden Reaktionen geführt, die im Lande eben deutlich machten, dass die Akzeptanz der kommunistischen Regierung sehr gering war, und es gab schon am Abend nach dem Spiel Aufläufe und gewisse Unruhen in der Hauptstadt und im Lande. - Also, das hatte schon erhebliche Auswirkungen für das System in Ungarn und hat nicht ursächlich zu den Entwicklungen 1956 beigetragen, das kann man wohl nicht behaupten, aber es war ein weiterer Tropfen oder vielleicht auch mehr als ein Tropfen in dieses berühmte Fass, das dann übergelaufen ist."
    Für Tony Judt sind solche Ereignisse Beleg dafür, wie eng die europäischen Nationalgeschichten in den vergangenen sechs Jahrzehnten miteinander verzahnt waren. Und aus diesen Verzahnungen heraus, argumentiert er, könne man eine starke, gemeinsame europäische Identität ableiten. Ein weiteres Beispiel, ein Jahrzehnt später: Der Erfolg von John Lennon, Paul McCartney, Ringo Starr und George Harrison.

    Die erfolgreichsten Musiker der Zeit, die Beatles und ihre Plagiatoren, übernahmen die Rhythmen der zumeist schwarzen amerikanischen Bluesgitarristen und verbanden sie mit Elementen, die direkt aus der Sprache und Erlebniswelt der britischen Arbeiterklasse stammten. Diese originelle Kombination wurde die ureigenste, übernationale Kultur der europäischen Jugend.
    Und damit Teil des kollektiven europäischen Erbes, das als Basis für eine gemeinsame Identität dienen kann. Tony Judt beschreibt solche Stile, Moden und Ereignisse kurzweilig und in einem unterhaltsamen Wechsel aus Anekdotischem und Analytischem, so dass sein Buch überhaupt nicht wie eine historische Abhandlung wirkt. Judt springt von Land zu Land, schlägt große thematische Bögen und findet damit einen sehr erzählerischen Weg, die jüngere Geschichte unseres Kontinents zu beschreiben. Eine erfolgreiche Geschichte, betont Judt, aber auch eine Geschichte, deren Ursprünge man nicht vergessen darf, sagt der Kölner Historiker Jürgen Elvert:

    "Wir müssen (...) nachdrücklich darauf hinweisen, dass es sich bei dem europäischen Integrationsprojekt eben zunächst einmal um ein friedenstiftendes Projekt handelte, dass eben die Ursachen für die Kriege, die es zuvor gegeben hat, beseitigen sollte, dass es eben kein ausschließlich wirtschaftliches Projekt darstellte im Sinne einer Zusammenlegung nationaler Ökonomien. Die wirtschaftliche Einigung sollte immer auch als Motor für eine weitergehende politische Einigung dienen."
    Über die friedensstiftenden Intentionen hinaus hat Europa aber längst viel mehr zu bieten - das ist es, was Tony Judt anschaulich und umfangreich beschreibt. Schade nur, dass sein Buch etwas nachlässig lektoriert wurde: Die Zahl der Tipp- und Zeichenfehler ist erstaunlich hoch.

    Tony Judt schrieb die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Hanser hat den 1000-Seiten-Wälzer in Deutschland verlegt; das Buch kostet 39,90 Euro.