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Ende einer Feindschaft?

Nach fast 100 Jahren ist der Konflikt zwischen Armenien und der Türkei noch immer wenig aufgearbeitet - in beiden Staaten. Das könnte sich bald ändern. Der türkischstämmige Schriftsteller Zafer Senocak erklärt sich die Verdrängung des Massakers unter anderem mit dem ersten Weltkrieg.

Zafer Senocak im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Burkhard Müller-Ullrich: Es war eine Überraschung und zwar von der guten Art, die Mitte dieser Woche von der Nachricht ausging: Armenien und die Türkei haben sich unter Schweizer Vermittlung auf zwei Protokolle geeinigt, die zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Öffnung der Grenze führen sollen. Dazu ein paar Fragen an den in Berlin lebenden, türkischstämmigen Schriftsteller Zafer Senocak. Es gibt ja wenige Wunden in der neueren Geschichte, die nach fast 100 Jahren als noch so schmerzhaft empfunden werden wie das, was Türken und Armenier damals – ich sage mal vorsichtig neutral – einander angetan haben. Also, es gibt keine Zeitzeugen, keine direkt Leidtragenden mehr, die Sache liegt so weit zurück wie für uns Verdun. Aber wie und warum wird diese Wunde zwischen der Türkei und Armenien bis heute offengehalten?

    Zafer Senocak: Also, ich erkläre mir das auch durch die große Verdrängung, die passiert ist. Man muss sich ja die Geschichte mal vergegenwärtigen: Die schrecklichen Ereignisse in Anatolien 1915 sind ja im Grunde genommen durch die türkische, durch den türkischen Befreiungskrieg, der im Anschluss dann stattfand an den Ersten Weltkrieg, die Gründung der türkischen Republik, vollkommen überdeckt worden. Und die Türkei hat sich dann in den20ern, 30ern als moderner Staat etabliert mit dem Blick nach vorn und hat im Grunde genommen die Geschichte nicht nur dieses Ereignisses, vieler Ereignisse, ja, Epochen, eigentlich negiert. Sie hat gar keinen Bezug mehr zu diesen Ereignissen gehabt. Die Armenier, die natürlich Opfer waren in der Türkei, die haben das ganz anders kultiviert und in Erinnerung behalten, vor allem auch in der Diaspora. Und diese Differenz erklärt eigentlich die Unstimmigkeiten, die Probleme, die Schwierigkeiten, darüber zu sprechen und ich finde es sehr gut, dass es in den letzten Jahren aufgebrochen ist, dass da eine Debatte stattfindet, eben auch zwischen Türken und Armeniern. Das ist ganz wichtig.

    Müller-Ullrich: Wie manifestiert sich das denn im Alltag? Also, sagen wir mal, wenn ein Türke einen Armenier trifft – denkt der dann daran?

    Senocak: Ich glaube, mittlerweile ja. Das war, glaube ich, nie ganz verschwunden. Es ist ja auch nicht so, dass man in der Türkei darüber nicht gesprochen hat. Man hat nur eine andere Erinnerung daran. Ich glaube, dass diese Vernichtung der anatolischen Armenier sehr viel zu tun hat mit dem, was auf dem Balkan passiert ist in den 90er-Jahren. Das haben wir ja noch frisch in Erinnerung, diese schrecklichen Ereignisse. Es sind zwei Völker auf demselben Territorium und das eine Volk wird sozusagen vertrieben, mehr oder weniger ausgelöscht. Und wie geht man jetzt mit diesem Faktum um? Das ist einfach so, wenn man die Bevölkerungszahlen anschaut, Anatolien 1914 und 1923, dann kann man es nicht anders sagen. Und ich glaube, dass ein solches Ereignis mit so gravierenden Folgen immer ein Gesprächsthema ist, zumindest auch, wenn man darüber schweigt, sozusagen als Schweigen im Raum steht.

    Müller-Ullrich: Also, das Gefühl, das man dazu hat, egal jetzt, ob es Schuldgefühl ist oder Schweigen, wie Sie sagen, hat aber nichts direkt mit dem Bildungsstand zu tun, nicht? Das ist unter Intellektuellen wie auch im Volk weithin verbreitet.

    Senocak: Das ist verbreitet, unter den Intellektuellen ist eben eine intensive Debatte in der Türkei in den letzten Jahren in Gang gesetzt worden, um auch die Türkei zu verändern, das muss man auch sehen. Das ist ein Faktum oder ein Moment in dem ganzen Veränderungsprozess des Landes, dieser Demokratisierungsprozess, da ist ja viel passiert in den letzten Jahren, viel aufgebrochen, und Tabuthemen sind da natürlich ganz an vorderer Stelle, wenn so etwas passiert, wenn ein Land sich sozusagen grundlegend verändert. Und es gibt natürlich entsprechend auch viel Widerstand, das ist ganz klar. Es sind natürlich auch psychologische Faktoren im Gange – ganz diffiziler Art. Es gab natürlich auch Auseinandersetzungen auf anatolischem Territorium, wo auch Türken Opfer waren, das muss man heute auch sagen, und dieses wird aber immer sozusagen gegengerechnet gegen die Opfer der Armenier und das muss aufhören, das ist sehr wichtig, von der türkischen Seite aus. Andererseits, von der anderen Seite aus muss man auch sehen: Die armenische Seite weigert sich bisher sehr beharrlich, Archive zu öffnen und auch eine Historikerdiskussion zuzulassen. Das ist ja jetzt in dem Protokoll, das unterschrieben worden ist bei der Annäherung der beiden Länder zum ersten Mal der Fall, dass also sozusagen eine Historikerkommission eingesetzt wird.

    Müller-Ullrich: Ja, das ist neu.

    Senocak: Das ist neu, und das finde ich schon wichtig, weil es wird immer gesagt: Es ist doch klar, was passiert ist. Ja, aber es gibt anscheinend zwei Versionen. Und wenn man diese zwei Versionen – zumindest zwei Versionen, vielleicht sogar drei, vier, fünf Versionen –, wenn man die sozusagen nicht diskutiert, dann kommt man auch nicht weiter.

    Müller-Ullrich: Es gibt ja wohl auch Fälschungsvorwürfe und die Vermutung, dass vieles instrumentalisiert wurde.

    Senocak: Teilweise das, ja, das gibt es, und dann, wie gesagt, auch natürlich einen armenischen Nationalismus. Darüber spricht niemand. Es gab ja nicht nur einen türkischen Nationalismus, der türkische Nationalismus war sehr spät. Er war eine Folge auch der verschiedenen Nationalismen des 19. Jahrhunderts. Auf dem Balkan war der Nationalismus ja schon sehr, sehr stark im Vormarsch. Und all diese Dinge gehören natürlich mit hinein in diese Diskussion. Allerdings sollte man das nicht in Verbindung bringen mit dem Leid der Opfer. Das muss einfach anerkannt werden. Das ist einfach unsäglich, dass acht Jahrzehnte lang die Türkei dieses Leid einfach nur negiert hat, also überhaupt kein Feingefühl entwickelt hat für das, was passiert ist auf dem eigenen Territorium.

    Müller-Ullrich: Vielen Dank für diese Auskünfte. Das war Zafer Senocak, Schriftsteller in Berlin.