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Ende einer Überfahrt

Die aus Marokko stammende und in Brüssel lebende Autorin Rachida Lamrabet mischt ihren Texten schwer übersetzbare Ausdrücke aus dem Arabischen oder Tamazight bei, Feridun Zaimoglus "Kanak Sprak" nicht unähnlich. Das Glossarium am Ende ihres Debütromans "Frauenland" ist deshalb sehr willkommen. Doch nicht, dass man sich täuscht, "Farbtupfer" bedeutet genau das: eine dezente zweite Schicht in diesem niederländischsprachigen Roman.

Von Volkmar Mühleis | 04.08.2010
    "Frauenland" handelt von jungen Leuten in Marokko und Belgien, die sich entweder um ihre Zukunft betrogen sehen oder um ihre Herkunft - mittellose Marokkaner in der Ferne, heimatlose Mitbürger vor Ort. Younes etwa versucht wie viele andere die illegale Überfahrt nach Spanien, und nach nur zwanzig Seiten ist der Leser seiner ersten Identifikationsfigur beraubt, wird der junge Mann leblos an den Strand gespült. Die folgende Geschichte entrollt sich zurück auf dieses Ereignis hin, mit jenen, die seinen Tod zu verstehen suchen. Doch die bilden keine homogene Gruppe: Da ist ein Mitflüchtling, der überlebte, da ist eine Marokkanerin, die in ihn verliebt war, und eine Frau in Antwerpen, um die er sehnlichst warb, und die als migrierte Marokkanerin den Maghreb nur hinter sich lassen möchte - Mara. Das Stilmittel der harschen Brüche durchzieht das Romandebüt von Rachida Lamrabet. Dazu meint der 39-jährige Autorin:

    "Es ist sicher kein Sadomasochismus, dass ich eine der zentralen Gestalten des Romans gleich zu Beginn sterben lasse. Der Anfang spiegelt nur die Wirklichkeit: Wie viele junge Leute wagen nicht die Überfahrt in kleinen, viel zu gefährlichen Booten und sterben auf hoher See? Die Dramatik, die darin liegt, sein ganzes Leben in eine Nussschale zu geben, mit dem Risiko alles zu verlieren, diese Dramatik musste spürbar werden."

    Die Brüche erinnern stilistisch an Montagetechniken, und die filmische Assoziation verstärkt sich in der zweiten Hälfte des Buches, wenn der Mitflüchtling von Younes nach Antwerpen kommt, um Mara mit dessen Tod zu konfrontieren und sie bittet, gemeinsam nach Südspanien zu fahren, um mit eigenen Augen zu sehen, wo der Junge angeschwemmt worden ist. Die Fahrt dorthin wird zum Roadmovie, durch eine lange Nacht der Ortlosigkeit, in der die beiden zusammen mit Maras Bruder im Auto sitzen. Sie hatte den Jungen nie wirklich geliebt, und weiß nicht, was sie dazu treibt, in den tiefsten Süden zu fahren, wo sie doch längst in Antwerpen angekommen war. Lamrabet über ihre Hauptfigur Mara:

    "Mara ist ein Amalgam aus Vorbildern marokkanischer oder türkischer Frauen in Belgien, denen allen gemeinsam ist, dass sie ihre Kraft aus der Wut schöpfen - Wut über all die Dinge, die falsch laufen: aus fehlendem Anstand oder böswilliger Diskriminierung, im eigenen Bekanntenkreis oder der Gesellschaft allgemein. Sehr viele Frauen empfinden ihre eigene Gemeinschaft als viel zu eng und wagen - frustriert, wie sie sind - den Konflikt.

    Eine solche Gestalt ist Mara: eine junge Frau, in der Blüte ihres Lebens, die keinen anderen Weg sieht als mit ihrer Familie, ihrer Kultur, ihrer Religion zu brechen."

    Ihre lange Fahrt in den Süden kennt keinen anderen Grund als den der Hilflosigkeit, der Orientierung. Denn wer ist sie in Antwerpen, wo die andern nicht mit sich brechen müssen, um jemand zu werden, in Belgien, Europa, in jener Selbstverständlichkeit, die der Migrant nicht kennt? Maras Hilflosigkeit und Wut ballen sich schließlich in einem ebenso absurden wie ironischen Kapitel, als sie nämlich auf Drängen ihres Bruders noch weiter mit nach Marokko fährt, wo sie partout darauf besteht, sich allein ein Hotelzimmer nehmen zu wollen, für sich sein zu wollen, und kein Portier ihr ein Zimmer geben möchte - ohne Begleitung, das wirkt suspekt. Ihr Bruder überzeugt sie schließlich davon, doch die Gastfreundschaft der Verwandten anzunehmen, und so durchkreuzen sich ihre Gefühle: dass sie zum einen darauf angewiesen ist, was sie nicht möchte, und zum andern sich selbst auch nur mit dieser Geschichte, ihrer Herkunft, annehmen kann.

    Es gibt kein Aufheben der komplexen Situation in diesem Roman, nur Bilder des Aufhebens, wenn am Ende etwa auf dem marokkanischen Friedhof, wo Younes begraben liegt, eine der umherliegenden Plastiktüten in den Wind steigt und Maras Blick mitnimmt, ihn spielerisch öffnet. Auf die Frage, welche Autoren ihr selbst die Liebe zur Literatur eröffnet haben, meint Rachida Lamrabet:

    "Mich beschäftigt vor allem Literatur, die von der Realität und ihrer Dringlichkeit handelt, und die sich der Gesellschaft zuwendet. Toni Morrison etwa hat mich sehr beeinflusst oder auch die karibische Schriftstellerin Carole Philips. Wie der Einzelne versucht seinen Weg zu finden, in einer besonders vielschichtigen Gesellschaft, das haben beide für mein Gefühl ungemein treffend geschildert."

    Der Name "Frauenland" ist ein Ausdruck marokkanischer Männer für Europa, eben jenen Kontinent, in dem sich Frauen zu viel herausnehmen könnten. Rachida Lamrabet erzählt von diesem Land aus der Sicht einer Frau, die sich selbst erfinden möchte, ohne im luftleeren Raum, der radikalen Entfremdung, zu ersticken. Es ist ein Roman ohne Schnörkel und Ornament, sehr nüchtern, ironisch, dramatisch und hervorragend komponiert. Man sollte darauf mehr achten als die bloße Thematik.

    "Frauenland" ist kein Diskussionsbeitrag, sondern - wie es in der Preisverleihung in Flandern so schön hieß - das "Debüt des Jahres".

    Rachida Lamrabet: "Frauenland".
    Aus dem Niederländischen von Heike Baryga
    Erschienen in der Sammlung Luchterhand
    255 Seiten, 9 Euro