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"Endet das europäische Zeitalter?"

Eine akademische Tagung: Vorträge, entworfen im Elfenbeinturm wissenschaftlicher Forschung. Faszinierend, innerhalb von 30 Minuten eine Tour d`Horizon durch 2000 Jahre europäischer Geschichte zu erleben - jenseits aufgeregter Tagespolitik.

Von Jürgen König | 21.06.2011
    Schon Göttervater Zeus liebte Europa - Namensgeberin unseres Kontinents
    Schon Göttervater Zeus liebte Europa - Namensgeberin unseres Kontinents (picture alliance / dpa)
    Die Vortragenden allesamt Größen ihres Fachs, dazu im Publikum Wissenschaftler wie Heinrich August Winkler und Herfried Münkler – wahrlich: eine Veranstaltung mit Stil.

    "Endet das europäische Zeitalter?": Rundheraus bejahen oder auch verneinen mochte die Frage niemand, die wohlwollenden Blicke auf Europas Zukunft - und auch auf seine Vergangenheit - überwogen. Es ist, wie es ist, meinte Wolfgang Reinhard von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

    "Als die Kastilier eher zufällig als planmäßig 1492 über den Atlantik in eine andere Welt geraten waren, sahen sie sich technologisch, politisch und mental unterlegenen Steinzeitmenschen gegenüber, deren Unterwerfung zu den ersten riesigen Imperien in Übersee führte. Der moderne Staat europäischen Ursprungs, die wirkungsvollste Organisation von Macht, die Menschen jemals erfunden haben, erreichte einen Höhepunkt, dem die traditionellen Reiche im Rest der Welt einfach nicht mehr gewachsen waren."

    Ja, die Europäer seien schuldig geworden; hätten gemordet und gestohlen, sich maßlos bereichert, aber eben: neben Sklaverei und Kolonialismus auch das Denken der Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie weltweit postuliert. Die universellen Werte der Menschenrechte hätten Europäer festgeschrieben – grundlegend und für alle Zeiten, meinte der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmannsegg.

    "Wer Menschenrechte oder Demokratie einfordert, ist nicht mehr begründungspflichtig. Es geschieht kaum noch, dass sich jemand explizit gegen Menschenrechte und gegen Demokratie ausspricht; auch die Mächtigen der Welt, die in ihrem politischen Handeln wenig mit Menschenrechten und Demokratie im Sinn haben, stehen unter dem Druck der Diskurshegemonie."

    Eine sehr europäische Sicht: Nichteuropäische Redner hätten - aus postkolonialer Perspektive - die ausbeuterische und gänzlich undemokratische Praxis europäischer Kolonialmächte vermutlich in weniger gesetzter Rede, dafür umso zorniger kommentiert. Aber ein solcher Redner war nicht geladen, und auch im Saal meldete sich keiner zu Wort. Den Begriff "Europa" weitete Jürgen Osterhammel von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aus zum Begriff des "Westens", der sich definiert habe gegenüber Russland, gegenüber dem Orient – mit gefährlicher Neigung zur Überheblichkeit. Doch auch die Rede vom "langsamen Niedergang" "des Westens" sei ein Klischee, das sich an alte Vorstellungen vom zyklischen Verlauf der Geschichte halte.

    "In Fortführung alter Lehren von der Abfolge der Weltreiche glauben viele Leute, auf ein europäisches Zeitalter – von einem amerikanischen ist auffällig selten die Rede – werde nunmehr zwangsläufig ein asiatisches folgen. Aber – muss das so sein? Hat China, der im Moment einzige realistische Aufstiegskandidat, überhaupt die Absicht, eine außenpolitische und militärische Rolle der Weltführerschaft zu übernehmen? Will China seine Vorstellungen von richtiger Politik und einem guten Leben, sagen wir verkürzt: seine Ideen und Werte - dem Rest der Welt aufdrängen oder gar aufzwingen Man darf daran zweifeln."

    Zustimmung im Saal, einzelne Kritikpunkte nur, doch in akademisch-kollegialer Manier vorgetragen. Kein "asiatisches Zeitalter" also, vielleicht auch kein "europäisches Zeitalter" mehr, vielleicht einfach: etwas Neues: Wolfgang Reinhard beschwört die Chancen, vor denen wir stehen.

    "Durch ihre Aneignung des Englischen haben die anderen die Engländer ihrer Sprache enteignet. Genau das ist es, was mit dem kulturellen Erbe der europäischen Weltherrschaft auch sonst geschehen ist und weiter geschieht. Wir haben es den anderen hinterlassen und sind dabei selbst enterbt worden, insofern wir außerhalb unserer eigenen Länder darüber nicht mehr verfügen können. Meine Damen und Herren, auch wir haben die Chance, uns das Erbe anderer Kulturen anzueignen und zwar in einem Ausmaß wie nie eine Kultur zuvor. Schließlich sind die Missionare der anderen längst ausgeschwärmt und mitten unter uns - mit oder ohne Kopftuch. Nutzen wir die Chance."