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Endlich erwachsen?

Der 45-jährige Schriftsteller Ingo Schulze aus Dresden hat vor einigen Jahren mit seinen "Simple Stories" Episoden über das vereinigte Deutschland geschrieben. Ganz unpathetische Beschreibungen von häufig gebrochenen Biographien. Die meisten Geschichten von Immobilienboom und Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, von Selbstständigkeit und Entlassung, von Punks, Skins, Rechtsradikalismus, Stasi und Armut, sie scheinen erzählt.

Moderation: Michael Köhler |
    Michael Köhler: Und doch habe ich ihn gefragt, ist Literatur ein anderer Wissensspeicher. Der einzige, der uns bleibt?

    Ingo Schulze: Na sicherlich ist er einer der wichtigen Speicher dafür. Und man weiß ja auch nie, wann so ein Speicher auch mal dicht gemacht wird. Also das wird auch noch eine ganze Weile dauern, dass da literarisch was hinzukommt. Aber die eigentliche Erfahrung natürlich, dieser Weltenwechsel, der steckt eigentlich dann erst in neue Leben drin. Also dieses Aufeinanderprallen, dieser zwei wirklich diametral entgegengesetzten Systeme. Und auch, dass man also merkt, 89/90 war der Beginn unserer neuen Welt. Für jemanden aus dem Osten ist das relativ einfach zu verstehen, weil er hat diese ganzen Zäsuren. Aber für jemanden aus dem Westen ist es schwieriger. Also mein Problem, wie gesagt, nie so das Verschwinden des Ostens, sondern dass allmähliche Verschwinden des Westens.

    Köhler: Nach 17 Jahren Einheitsfeiertag und nach 18 Jahren Wende ist es ein blödes Bild, aber ich wag es trotzdem einmal, scheint die Einheit vielleicht volljährig zu sein. Man darf, glaube ich, mit 17 einen Führerschein machen und darf dann auch begleitet Autofahren. Trägt das Bild? Kann man die Deutschen in diese Einheit sozusagen jetzt volljährig entlassen?

    Schulze: Na, ja ... Ich habe ein bisschen Schwierigkeiten mit diesem schönen Vergleich. Da haben sich ja doch sehr entscheidende Dinge im Westen geändert. Also ich war gestern Abend beispielsweise beim Empfang hier in Rom der deutschen Botschaft und da standen davor zwei BMWs und überhaupt wurde alles von BMW bezahlt. Und als ich dann den Botschafter fragte, ob das nicht irgendwie ein bisschen komisch ist, wusste er gar nicht, wovon ich rede. Und ich finde das dann doch regelrecht zeichenhaft, dass eigentlich dieses Politische immer mehr abkippt und das Ökonomische immer mehr übernimmt. Und daran sind natürlich nicht die Firmen in erster Linie Schuld, sondern wir als immer noch Souverän.

    Köhler: Ich erwische Sie gerade in der Villa Massimo. Mit einem Künstlerstipendium sind Sie da. Und ich wage den Vergleich. Sie kommen mir vor, wie Renate Meurer aus ihrem Roman. Plötzlich ist man in Italien und wundert sich, dass man auf der anderen Seite der Welt ist. Geht Ihnen das überhaupt noch so? Oder ist das eigentlich zu Recht eine Selbstverständlichkeit für Sie? Oder ist das immer noch ein bisschen so etwas, wo Sie sagen, Mensch, ein Segen, das mir das widerfahren ist?

    Schulze: Doch. Das muss ich schon sagen. Das ist natürlich irgendwo auch eine wunderbare Selbstverständlichkeit. Aber das andere ist eigentlich auch ständig gegenwärtig. Also, dadurch dass ich ja auch viel ...

    Köhler: Welches andere?

    Schulze: Also, dass ich sage, mein Gott, wie schön, dass das so ist. Und insofern ist das eine Sache, die mir immer noch präsent ist. Zumal eigentlich mein Erlebnis nach 89 gar nicht so sehr das Westerlebnis, es war vielmehr das Süderlebnis. Also für mich war Italien einfach immer schon sehr wichtig. Und es war immer mein Traum, mal länger hierher zu kommen. Dass sich der nun erfüllt hat, ist natürlich riesengroßer Glücksumstand.

    Köhler: Gerne wird ja der Vergleich gesagt, wenn die Ostdeutschen nach Westdeutschland fuhren, dann fuhren sie nicht nach Westdeutschland in ein Ausland. Sondern sie fuhren nach Deutschland. Ging Ihnen das auch so?

    Schulze: Na, ja. Ich finde es immer so, das ist immer sehr befremdlich, wenn der Besuch zurückfuhr, die sagten, wir fahren jetzt nach Deutschland. Und dachte ich, wo sind wir denn hier. Andererseits finde ich es natürlich ganz interessant, dass zu DDR-Zeiten wollte eigentlich kaum jemand DDR-Bürger sein. Nach 90/91 hat sich ja dann so dieser Begriff des Ostdeutschen entwickelt. Also erst in dem Moment, wo man das andere kennen lernt, begreift man auch, dass man irgendwie anders groß geworden ist und findet da plötzlich so eine Zusammengehörigkeit, die es in dieser Form vorher gar nicht geben konnte. Und dazu zählt, glaube ich, das mit rein, dass man im Westen Deutschland immer zu sagen, Bundesrepublik meinte. Und jetzt ist halt dieser andere Begriff dazugekommen, das Ostdeutsche.

    Köhler: Bundestagspräsident Lammert hat heute beim Festakt zur Deutschen Einheit in Schwerin angeregt, ein deutsches Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin zu errichten. Nicht heute und nicht morgen, aber vielleicht zum 25. Jubiläumstag der Deutschen Einheit. Was halten Sie denn davon?

    Schulze: Hm. Es ist immer schwierig. Also ich weiß nicht, ob es solcher Denkmäler braucht. Deutschland ist ein vereinigtes Land. Da gibt es keine Bestrebungen, dass sich da jemand irgendwie abspalten will, zumindest nicht im Osten. Also es ist eigentlich, glaube ich, besser, man spricht mehr darüber.

    Köhler: ... und schreibt auch als Schriftsteller? Denn diese Geschichten sind noch nicht zu Ende erzählt, oder?

    Schulze: Nein. Also das weiß man ja aus der Geschichte, dass oftmals die wichtigen Bücher erst 30, 40 Jahre später kommen. Also ich hoffe, dass ich da auch noch was dazu zu erzählen habe. Wobei ja auch, wenn man über das Heute spricht, das ja manchmal nur in einem Nebensatz. Aber manchmal eben doch auch mehr, als man im Nebensatz eine Rolle spielt. Manchmal scheint es gar keine Rolle mehr zu spielen. Also das verschiebt sich halt auch. Aber da ist es natürlicherweise immer noch.

    Köhler: Spätestens dann, wenn einen die Kinder fragen?

    Schulze: Wenn man sich überlegt, jemand, der heute 20 ist, hat davon überhaupt nichts mehr mitbekommen. Und das ist ja schon irgendwie ein beträchtlicher Zeitabschnitt.

    Köhler: Sagt der in Dresden geborene 45jährige Schriftsteller Ingo Schulze, den wir in der Villa Massimo bei einem Künstlerstipendium in Rom erreicht haben.