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Endlich Nichtleser

Ein Geständnis an dieser Stelle: Ich, Ihr Rezensent, bin einem Irrtum erlegen. Er reicht, wie die meisten grundlegenden Irrtümer unseres Lebens, sehr weit zurück in die Jugend, entstand vermutlich im melancholischen Abschnitt der Pubertät, wo man ziemlich genau weiß, was man nicht werden will, aber nicht den blaßesten Schimmer davon hat, wer man eigentlich ist. In diesen Zeiten beschloß ich, ein Buch zu werden. Nicht Leser oder Autor, oder gar Rezensent, nein: Buch. Ledergebunden mit Goldschnitt, versteht sich, also ein Werk, das Respekt erheischt, aber dennoch hin und wieder aus dem Regal gezogen und heimlich gestreichelt wird ... vielleicht ein Lexikon der Sexuologie in blauem Saffian. Unnötig zu sagen, daß dieser Plan fehlschlug. Wahrscheinlich, den Verdacht trage ich seit langem mit mir herum, lese ich zu wenig. Das liegt daran, daß ich Bücher eigentlich nicht leiden kann. Ja, frank und frei: Ich hasse sie! Sie machen mich einsam, exzentrisch, schneiden mir den Weg zum Sonnenlicht ab und verstärken die Neigung zu Staubasthma. Je mehr ich lese, desto unglücklicher werde ich, denn irgendwann wird mein Kopf bersten und sich all die halbverdaute Lektüre über die Welt ergießen. Schon aus Furcht davor besuche ich keine gesellschaftlichen Veranstaltungen mehr.

Florian Felix Weyh |
    Doch Abhilfe naht. Zwar in Gestalt eines Buches – eine Videocassette wäre mir lieber gewesen –, aber immerhin! "Endlich Nichtleser" prangt auf dem Titel, und wenn man genau hinsieht, entdeckt man auf dem verschwommenen Coverfoto eine Axt, die ein Buch spaltet. Das ist groß im Lande der Bücherverbrennung, ein Akt eidgenössischer Zivilcourage, denn der Verfasser ist Schweizer. "Die beste Methode, mit dem Lesen für immer aufzuhören", verspricht der Untertitel, biographisch fundiert, denn Gion Mathias Cavelty, Jahrgang 1974, hat trotz seiner Jugend eine schwere Leidensgeschichte hinter sich. Mit sechsundzwanzig Jahren auf eine veritable Trilogie zurückzublicken, kann ja nur heißen, daß man zuvor der Lesesucht verfallen war. Schreiben ist der letzte Ausweg des Suchtlesers, ein Überdruckventil, das individuelle Nöte lindert, aber die Seuche kollektiv fortpflanzt. Jeder Schreiber gebiert neue Leser oder hält alte bei der Stange. "Schluß damit", sagt Cavelty beherzt, der Teufelskreis muß durchbrochen werden! In einhundert einseitigen Kapiteln führt er uns die Gefahren des Lesens alptraumhaft vor: Die Literatur ist eine Welt, in der alles passieren kann, ohne Vorwarnung, ohne Kausalität, einfach deus ex machina, schon sitzt man in der Patsche, ist von Ungeheuern umzingelt, in einer falschen Zeitebene gelandet, womöglich Opfer der eigenen destruktiven Phantasie. Wer sein Weltbild an der Literatur schult, wird sich in der Welt außerhalb des Buches nur als Idiot bewegen können. In einem Wort: Lesen ist ein Ausscheidungsprodukt. (Cavelty drückt das weniger gewählt aus, aber diese Drastik gehört zum Entwöhnungsprogramm und und darf nicht zu früh in Erscheinung treten.) Mit Genugtuung nimmt man die Ermordung eines Literaturkritikers zur Kenntnis, freut sich über die Attentate in Klagenfurt und auf der Frankfurter Buchmesse und hofft, daß alles ein glückliches Ende nehme. Eine Ende ohne weitere Lektüren, eine Welt ohne Bücher, ein lesefreies Leben. Überlegen Sie sich nur, wieviel Zeit Sie dadurch gewinnen! Zeit für sich und andere, Zeit, sich den Börsenkursen, Gottesdiensten und dem Fernsehen zu widmen. Nein, ich höre auf zu lesen, versprochen! Allerdings nur, wenn Cavelty das Schreiben einstellt. Noch ist er jung genug, auf einen anständigen Beruf umzuschulen, und sobald er mir seine Visitenkarte als Bäcker, Maurer oder Psychiater zuschickt, werde ich unverzüglich, ja nachgerade abrupt, meine aktuelle Lektüre fallenlassen und die Axt aus dem Keller holen. Gott, wird das ein Freudentag! Hoffentlich hält der junge Mann durch.