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Endstation Fukushima

Das Verhältnis der Deutschen zur Atomenergie hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Kehrtwende gemacht: Galt die Kernkraft im Wirtschaftswunderland als Motor des wirtschaftlichen Aufstiegs, ist das Vertrauen in diese Technologie nach dem Atomunfall in Fukushima endgültig verloren gegangen.

Ein Radioessay von Michael Bauchmüller | 25.12.2011
    I. Die Chronik einer Entfremdung
    Jeder Bruch hat sein Bild. Der Atompilz von Hiroshima, der Fall der Mauer, der Einsturz des World Trade Centers – im kollektiven Gedächtnis sind diese Einschnitte verknüpft mit ganz bestimmten Bildern, eingeprägt wie Brandmale. Etwas unscharf ist das Bild aus Japan. Aus der Distanz zeigt es ein Reaktorgebäude, dem die Hülle davonfliegt. Fassadenteile, Schutt, Rauch – und dann nichts. Eine kurze Sequenz nur, aus Fukushima Daiichi, im vergangenen März.

    Nirgends hat diese Sequenz so schnell so viel ausgelöst wie in Deutschland. Nur drei Tage später ist ein Moratorium über die Atomkraft verhängt, vier Monate später sind acht von 17 deutschen Reaktoren für alle Zeiten stillgelegt. Was ist passiert? Wie konnte ein atomarer Unfall in Japan einen derart atemlosen Atomausstieg in Deutschland provozieren?

    Die Spurensuche führt zu Vertrauensfragen. Von einem erst unbändigen Vertrauen zu Zweifeln und schließlich zu Misstrauen und Ablehnung. Dieser Prozess zieht sich über Jahrzehnte hin, er hinterlässt viele Wegmarken – Wyhl, Wackersdorf, Brokdorf, Tschernobyl. Die Deutschen und die Atomkraft, es ist die Chronik einer Entfremdung.

    1957 sind die Probleme weit weg. Deutschland ist im Aufbau und im Aufbruch. Die Wirtschaft wächst schnell, vielleicht zu schnell. "Wir stehen nun vor der Aufgabe, den weiten Rückstand gegenüber den führenden Atomländern von zehn bis 15 Jahren möglichst schnell aufzuholen", sagt Atomminister Siegfried Balke 1957 vor dem Deutschen Bundestag. "Nicht wegen des nationalen Prestiges oder wegen wirtschaftlicher oder politischer Machtentfaltung, sondern um die Lebensgrundlagen unseres Volkes zu sichern." Denn Energie ist zu diesem Zeitpunkt längst der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg – sie verheißt Wohlstand und Aufschwung. Die zivile Nutzung der Atomkraft und die Automation – in den Fünfzigerjahren sind es "die beherrschenden Themen, an denen sich die Fantasie der Zeitgenossen entzündete", wie später der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser schreiben wird.

    Die Offenheit für neue Technologien ist im Wirtschaftswunderland Deutschland zunächst groß; in der Wahrnehmung vieler Bundesbürger jagt eine Innovation die andere. Die Kernkraft scheint nur ein weiterer "Triumph der Technik". Schon 1961 geht der erste Versuchsreaktor ans Netz.

    Risiken und Nebenwirkungen spielen in den Anfangsjahren noch keine große Rolle. Das Wachstum der Wirtschaft ist nötig, um die Folgen des Weltkrieges zu überwinden. Die Automation befördert den Massenkonsum, der breiten Schichten erstmals einen gewissen Luxus eröffnet. Mit dem Einstieg der Deutschen in die Atomenergie scheinen die letzten Grenzen des Wachstums aufgehoben. Es gibt sie schon, die Zweifler und Bedenkenträger. Aber sie sind wenige. Und sie haben zumeist nicht die friedliche Nutzung der Kernenergie im Blick, sondern – in Zeiten des Kalten Krieges und kaum mehr als zehn Jahre nach Hiroshima und Nagasaki – die Gefahren der Atomrüstung.

    Als in den Sechzigerjahren die ersten Atomkraftwerke in Bau gehen, ist der Widerstand leise und fern. Im Eiltempo werden die ersten Reaktoren genehmigt. Beim ersten kommerziellen Großkraftwerk, Gundremmingen A bei Augsburg, vergehen 1962 nur fünf Monate vom Bauantrag bis zur Genehmigung, binnen drei Jahren ist der Reaktor fertiggestellt. 1965 geht Gundremmingen A ans Netz.

    Vertrauen? Es ist übergroß in dieser Zeit: In staatliche Institutionen, in Ingenieurskunst, in den Fortschritt an sich. Nichts spiegelt das besser als der Begriff der "Beherrschbarkeit", der die Atomkraft von den frühen Anfängen an begleitet. Die Potenziale, auch die Risiken der Kernenergie mögen immens sein. Aber Techniker und Ingenieure haben gelernt, sie zu "beherrschen". Hier wird die Physik gebändigt im Druckbehälter, wird die Hitze gezähmt durch Kühlkreisläufe, schaffen Generatoren aus Dampf wertvollen Strom. Die Atomkraft wird so auch zum Symbol der Dominanz des Menschen über die Kräfte der Natur.

    II. Vom blinden Fortschrittsglauben zum offenen Protest
    1975 fordert Gundremmingen A die ersten Opfer der Atomenergie in Deutschland. In Zinksärgen werden die Schlossermeister Otto Huber und Josef Ziegelmüller begraben. Ein Arbeitsunfall: Radioaktiver Dampf hatte die beiden getötet. Zwei Jahre später wird das Kraftwerk bei einem Zwischenfall schwer beschädigt. Eine Abschaltung des Reaktors misslingt, das Innere wird mit radioaktivem Wasser geflutet. Das erste deutsche AKW wird unbrauchbar. Zu dem Zeitpunkt hat sich der Wind in der Bundesrepublik längst gedreht.

    Im badischen Wyhl gehen im Februar 1975 erstmals 30.000 Menschen gegen den Neubau eines Kernkraftwerks auf die Straße. Die Jahre des Wirtschaftswunders sind vorübergezogen und haben einigen Wohlstand hinterlassen. Erstmals engagieren sich die Massen nun für die Verteidigung ihrer Lebensumwelt. Eine Bewegung entsteht, deren Klammer die Atomkraft ist, die sich aber aus vielen verschiedenen Quellen speist. Für manche ist die friedliche Nutzung der Kernenergie die Vorstufe zur Atombombe. Andere zweifeln an der "Beherrschbarkeit" der Kernspaltung, wieder andere wollen schlicht kein AKW in Reichweite ihrer Äcker und Weinberge, wie etwa in Wyhl. Mittlerweile verkörpert die Atomkraft auch einen rücksichtslosen Kapitalismus, der für den schnellen Profit das spätere Strahlenerbe hinnimmt, der auch über die Interessen des Einzelnen und auch der Nachwelt hinweggeht. "Zur Debatte steht nicht nur die künftige Energieversorgung, sondern auch die der Herrschaft", schreibt 1977 der Zukunftsforscher Robert Jungk in seinem Buch "Der Atomstaat". "Der Konflikt geht nicht nur um eine bestimmte Technik, sondern um alle Erscheinungsformen und Machtabhängigkeiten der großindustriellen Technologie." Die Atomenergie wird zur Parabel auf die Macht im Staate, zum Teil der großen Frage: Wem gehört die Republik?

    Größe liegt in der Logik eines Atomkraftwerks. Es erfordert gigantische Investitionen – und damit große, finanzkräftige Unternehmen. Es versorgt die Massen – und macht sie von sich abhängig. Es lohnt sich nur über lange Zeiträume – und erzwingt damit das treue Bekenntnis der Politik. So gehen Konzerne und Politik zwangsläufig einen verhängnisvollen Pakt zugunsten der Kernkraft ein. "Staat und Wirtschaft werden immer mehr einer großen Maschine gleichen, und es kann nicht gestattet werden, dass man ihr Funktionieren stört", schreibt Robert Jungk damals düster.

    Für die Linke, auch für die Friedensbewegung, wird die Atomenergie zum Symbol einer gefährlichen Machtkonzentration. Für die Umweltbewegung wird sie zum Sinnbild einer auf das Jetzt fixierten Wirtschaftsweise, die bedenkenlos Hypotheken für nachfolgende Generationen zeichnet.

    Immer häufiger ist die Atomkraft nun Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Der Widerstand bekommt Namen: erst Wyhl, dann Gorleben, Wackersdorf, Kalkar, Brokdorf. An den Bauzäunen der Atomanlagen erleben Tausende einfache Staatsbürger erstmals die starke, mitunter brutale Hand des Staates. Wo der Bürger gegen die Atomkraft angeht, entfremdet er sich häufig von einem Staat, der Baurechte für Atomanlagen gegen alle Widerstände durchsetzen will. So nimmt die Vertrauenskrise ihren Lauf.
    Nirgends lässt sich ein Vertrauensverlust schwerer verkraften als dort, wo nichts als Vertrauen sein kann. Denn die Wahrheit über die Sicherheit, das wahre Risiko einer Atomanlage, kann nicht einmal der Betreiber benennen. Sicherheit – in einer Hochrisikotechnologie ist das zwangsläufig immer ein relativer Begriff. Im Atomkraftwerk wird sie zu einer Variablen der Redundanz, der Sicherheitsvorkehrungen, der Lernfähigkeit des Systems. Aber der verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit eines Unfalls steht hier eben immer auch ein unübersehbarer Schaden gegenüber, sollte das Unwahrscheinliche doch eintreten. Die Rechnung enthält zu viele Unbekannte, als dass eine Gesellschaft sie schlüssig, schon gar nicht einvernehmlich kalkulieren könnte.

    Ohnehin lässt sich der Preis für die Atomenergie nicht beziffern - weder in zeitlicher noch in räumlicher Hinsicht. Radioaktiver Müll wird zur Last von Generationen, zum Erbe für Zigtausende von Jahren. Die Folgen eines Unfalls reichen weit über Zeitpunkt und Ort der Havarie hinaus. Das unterscheidet diese Großtechnologie von vielen anderen, das macht sie so unberechenbar.

    Das Wohlergehen der Bevölkerung hängt damit von anderen ab: von der Fähigkeit des Reaktorpersonals, von Aufmerksamkeit und Unbestechlichkeit der Genehmigungsbehörden, vom Verantwortungsgefühl des Betreibers, von den Sicherheitsreserven eines Kraftwerks. Geht das Vertrauen in diese Instanzen verloren, büßt die Technologie ihre gesellschaftliche Legitimation ein.

    III. Tschernobyl – ein Rest-Risiko fliegt in die Luft
    Die Geschichte ändert sich am 26. April 1986 um ein Uhr 23 und 40 Sekunden. Eine Kernschmelze nimmt ihren Lauf, die Steuerstäbe in Block 4 des sowjetischen Atomkraftwerks Tschernobyl haben sich verklemmt. Es ist, nach der Kernschmelze im amerikanischen Kernkraftwerk Three Miles Island 1979, der zweite schwere Atomunfall binnen weniger Jahre. Aber es ist der Erste, der auch in die deutsche Lebenswirklichkeit einbricht: erst als gar nicht so ferne Katastrophe, dann als konkrete Bedrohung für die Gesundheit, vor allem in Süddeutschland. Die Gefahr ist unsichtbar, tückisch. Keiner kann sie sehen, keiner kann sie riechen – und ihre Folgen sind erst Jahre, manchmal Jahrzehnte später zu spüren. Tschernobyl ist nicht das einzige Unglück dieses Jahres: 1986 stürzt in den USA die Challenger ab, die Schweizer Sandoz-Katastrophe führt zum Massensterben von Fischen im Rhein. 1986 wird zu dem Jahr, in dem die Vorstellung von der Allmacht der Großtechnologie zerbricht.

    Das verändert auch die Rolle der Kernkraft in der deutschen Gesellschaft. Binnen dreier Jahrzehnte wird aus einer Technologie, die Lebensgrundlagen sichern soll, eine, die eben diese Lebensgrundlagen potenziell vernichtet. Die Bundesrepublik bekommt, neben den skandinavischen und baltischen Staaten, den radioaktiven Fallout am stärksten zu spüren. Nur bruchstückhaft informieren auch deutsche Behörden über das Ausmaß der Kontamination. Das lässt den Zweifel keimen.

    Anderswo reagieren Bürger gelassener. In Frankreich etwa hinterlässt Tschernobyl nicht annähernd solche Folgen wie in Deutschland. Aber Frankreich erlebt auch keinen Fallout. Dort steht Atomenergie im Bewusstsein der Bevölkerung auch für atomare Abschreckung, für die Fähigkeit zur Selbstverteidigung. In Frankreich stehen die Eliten geschlossen hinter der Atomenergie. Jene Eliten, zu denen viele Deutsche in der Nachkriegszeit ein zunehmend gespaltenes Verhältnis haben. Wer die deutsche Reaktion auf Tschernobyl verstehen will, muss die deutsche Geschichte kennen.

    Während die gesellschaftliche Stimmung hierzulande zusehends kippt, begeht die deutsche Atomwirtschaft einen fatalen Fehler: Sie sieht zu, wie aus der Kernkraft eine Glaubensfrage wird. Durch diese Ideologisierung können sich die Atombetreiber aus der gesellschaftlichen Debatte zurückziehen; sie müssen sich nun mit den Gegnern nicht weiter auseinandersetzen. Die Atomenergie wird zu einer Frage des Bekenntnisses. In Unternehmen, Politik und Verwaltung entsteht ein Netzwerk von Atomfreunden, die diese Industrie am Laufen halten. Inmitten einer zunehmend kritischen Gesellschaft konstituiert sich so ein Bollwerk der Überzeugten, das wie die späte Realisierung von Robert Jungks "Atomstaat" wirkt.

    Damit ist die Abspaltung besiegelt. Die Betreiber der Kernkraftwerke begeben sich zunehmend in eine Schweigefalle, sie sehen sich umzingelt von ihren Kritikern. Wo etwas im deutschen Atompark schief geht, gelangt nur das Nötigste nach außen. Keiner will die Kritik unnötig anfachen. So tröpfeln die Informationen aus einem Apparat, der doch eigentlich das Vertrauen jener Gesellschaft braucht, die ihn dulden soll. Wer aber die Wahrheit vor den Misstrauischen zu lange verbirgt, erzeugt neues Misstrauen. So kommt eine Kettenreaktion in Gang, der die deutsche Atomwirtschaft zum Opfer fallen wird.

    IV. Der Ausstieg
    Union und FDP haben lange nicht verstanden, wie tief der Zweifel in der deutschen Gesellschaft wurzelt. Als sie 2010 die Laufzeiten verlängern wollen, geben sie sich abermals dem Sachzwang hin. Die Atomenergie soll nun den Aufschwung sichern helfen, die Strompreise dämpfen. Sie soll die Brücke bauen zu einer anderen Energiewelt, die aber durch die Laufzeitverlängerung plötzlich so fern ist, dass sich noch niemand mit dem jenseitigen Ufer beschäftigen muss. Dieser Kompromiss setzt schon gar nicht mehr auf Vertrauen in die Technologie, sonst müsste er keine Brücke bauen in eine andere Welt. Ökonomische Vernunft allein soll Laufzeiten bis weit in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts legitimieren.

    In ihrem Eifer kümmert sich diese Regierung nicht darum, welchen Eindruck sie hinterlässt: durch nächtliche Absprachen mit der Atomindustrie; mit Verträgen, die tagelang niemand zu sehen bekommt. Auch das Argument der Brückentechnologie verfängt nicht – wer beharrt schon auf einer alten Technologie, um einer neuen den Weg zu bahnen. So macht sich diese Koalition abhängig vom störungsfreien Betrieb. Und niemand kann im Herbst 2010 ahnen, dass ihr dies so schnell zum Verhängnis werden wird.

    Der japanische Tsunami, die verschwommenen Bilder vom explodierenden Reaktor, sie können für die deutsche Atomwirtschaft nur das Aus bedeuten. Eine Atom-Katastrophe in einem Industrieland, entstanden aus Umständen, die in dieser Form niemand erwartet hatte – es ist das Ende der Beherrschbarkeit. Mehr noch als jede Katastrophe zuvor wird dieser GAU ein schwerer Störfall im Wohnzimmer, mit Millionen ohnmächtiger Zeugen.

    Was Deutschlands Atomindustrie 2011 endgültig einholt, ist das Vermächtnis des Sachzwangs. Stets legitimierten äußere Entwicklungen die Technologie. Erst war es der Wettlauf mit führenden Industrienationen. Später die einmal investierten Mittel, die erst wieder eingespielt werden wollen. Dann die Angst vor der Abhängigkeit von Rohstoffimporten und steigenden Energiepreisen; und schließlich die Vorstellung, doch lieber von den eigenen Kernkraftwerken abhängig zu sein, als von jenen in Frankreich oder Tschechien.

    Der Sachzwang folgt seiner eigenen Logik. Er muss nicht um Vertrauen werben, denn er rechtfertigt sich aus sich selbst. Er bildet eine abgeschlossene und scheinbar in sich stimmige Argumentationskette, die nur eine Frage nicht beantworten kann: Wollen wir das wirklich? Der 11. März 2011 wurde zu dem Tag, an dem diese Frage sich nicht länger wegschieben ließ. Es war der Tag, an dem die Skepsis ihr unauslöschliches Bild erhielt. Der Vertrauenskredit dieser Technologie war da schon lange aufgezehrt.

    Michael Bauchmüller ist Parlamentskorrespondent der Süddeutschen Zeitung.

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