Eine echte Überraschung waren die Eilmeldungen vom Wochenanfang für Kenner der Materie nicht:
"Köhler unterzeichnet Urkunde zum Lissabon-Vertrag vorerst nicht."
Die Nachricht hat eine andere Qualität als die polnischen Zweifel, erst Recht als das irische Nein zu dem Vertragswerk, das die Europäische Union auf eine neue Grundlage stellen soll: Das Bundespräsidialamt begründete die Entscheidung Horst Köhlers nicht etwa mit Skepsis gegenüber dem Inhalt. Stattdessen heißt es in der dürren Pressemitteilung:
"Angesichts vorliegender Anträge auf einstweilige Anordnung folgt der Bundespräsident damit einer Bitte des Bundesverfassungsgerichtes."
Die Bitte gab es. Der Hintergrund ist ein völkerrechtlicher: Sobald der Bundespräsident die Urkunde unterschreibt und anschließend am EU-weit vereinbarten Ort Rom hinterlegt, wäre sie international für Deutschland verbindlich. Horst Köhler hätte damit Fakten geschaffen. Und das vor der ausstehenden Entscheidung der Karlsruher Richter zur Vereinbarkeit des Vertragswerks mit dem Grundgesetz.
Es klagen vor dem Bundesverfassungsgericht: Der CSU-Politiker Peter Gauweiler auf der einen Seite, dem es um die deutsche Souveränität und das Grundgesetz geht. In einer der in seinem Auftrag verfassten Klageschriften heißt es:
"Aus Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz folgt, dass die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte an die Europäische Union nur unter der Voraussetzung übertragen darf, dass die Europäische Union den geschützten fundamentalen Verfassungsprinzipien entspricht."
Diese Anforderungen erfüllt die EU, nach Ansicht Gauweilers, nicht.
Auf der anderen Seite klagt die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag. Sie bemängelt auch konkrete Inhalte des Vertrages. Ihr Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi:
"Erstens: Es kommt Militär hinzu. Dieses Militär soll sogar intervenieren können. Also, das ist zum Beispiel eine Frage, die wir klären müssen. Jetzt komme ich zur zweiten Seite, die auch sehr spannend ist, wegen des Demokratiegewinns. Es gibt eine größere Verlagerung vom Bundestag und von anderen nationalen Parlamenten hin nach Europa. Und zwar nicht nur zum europäischen Parlament, das wäre ja noch vertretbar, sondern auch zur Exekutive.
Wir haben das Problem, dass der Europäische Gerichtshof und das europäische Recht so organisiert sind, dass bestimmte Kapitalverkehrsfreiheiten höher bewertet werden als soziale Grundrechte. Das widerspricht dem Grundgesetz. Und darum geht es uns."
Ob nun die Entscheidung des Bundespräsidenten, seine Unterschrift vorläufig nicht unter den Vertrag von Lissabon zu setzen "das falsche Signal" war, wie manche Europapolitiker kritisieren, oder ob es ein ganz normales Verfahren ist, wie andere beteuern - das Ergebnis ist das Gleiche. Deutschland ratifiziert den Lissabon-Vertrag einstweilen nicht.
Verfahren wie dieses gegen den EU-Reformvertrag haben Tradition in Karlsruhe: Von Anfang an haben die Verfassungsrichter den Prozess der europäischen Einigung aufmerksam begleitet. Kein Wunder, denn mit der Frage, was in Europa entschieden werden darf, geht spiegelbildlich die andere Frage einher: Die nach der eigenständigen Entscheidungsmacht Deutschlands, und damit nach der Reichweite des Grundgesetzes und auch der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst.
Beim Streit um den Lissabon-Vertrag geht es um die grundlegende Anlage der künftigen Union, um die weitere Übertragung von Souveränitätsrechten, es geht um Demokratie und Nationalstaatlichkeit. Wie in dieser Tragweite schon einmal zuvor.
"Der Maastrichter Vertrag ist verfassungskonform. Wir können jetzt die Ratifikationsurkunde sofort hinterlegen. Das wird heute Abend in Rom bei der italienischen Regierung geschehen, und der Vertrag kann damit zum 1.11.1993 in Kraft treten."
Ein zufriedener Außenminister Klaus Kinkel trat am 12. Oktober 1993 vor die Mikrofone der Karlsruher Journalisten. Gerade hatte der Zweite Senat sein "Ja" zum Maastrichter Vertrag ausgesprochen, der die Staaten Europas stärker zusammenwachsen lassen sollte und mit dem die Einführung des Euro beschlossen wurde. Das "Ja" der Verfassungsrichter zum "Vertrag von Maastricht", entpuppte sich freilich bei näherem Hinsehen als ein "Ja, aber".
Die Fragen, um die es damals ging, waren ähnliche wie heute: Was passiert, wenn Deutschland immer mehr Entscheidungen aus der Hand gibt? Was wird aus den unverbrüchlichen Garantien des Grundgesetzes, vor allem aus dem Demokratieprinzip? Und wie weit darf die Bundesrepublik überhaupt auf ihre staatliche Souveränität verzichten?
Die Antwort der acht Richter war 1993 - was die Folgen für die demokratische Mitsprache betrifft - eher von Skepsis geprägt. In der Urteilsverkündung sagte der damalige Senatsvorsitzende Ernst Gottfried Mahrenholz:
"Werden supranationalen Organisationen Hoheitsrechte eingeräumt, verliert das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan, der Deutsche Bundestag, und mit ihm der wahlberechtigte Bürger notwenig an Einfluss auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess."
Das "Aber" sollte jedoch keineswegs das "Aus" für den Vertrag von Maastricht bedeuten. Denn zum einen sahen die Richter einen gewissen Verlust an Einflussmöglichkeit als notwenige Folge einer vom Grundgesetz für möglich gehaltenen Einbindung in supranationale Zusammenhänge. Zum anderen aber erkannten die Richter auch:
"Der Mitgliedsstaat und mit ihm seine Bürger gewinnt freilich auch Einflussmöglichkeiten durch die Beteiligung an einer Willensbildung der Gemeinschaft zur Verfolgung gemeinsamer und damit auch eigener Zwecke, deren Ergebnis für alle Mitglieder verbindlich ist und deshalb auch die Anerkennung der eigenen Bindung voraussetzt."
Die Mitgliedschaft in einem zusammenwachsenden Europa sei vom Grundgesetz sogar gewollt, ergänzt der Regensburger Staats- und Völkerrechtsprofessor Robert Uerpmann-Wittzack:
"Die Bildung eines vereinten Europas ist ausdrücklich Ziel des Grundgesetzes. Schon in der Präambel des Grundgesetzes heißt es dazu: Deutschland sei ein gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa. Das heißt, das Grundgesetz geht nicht von einem souveränen Staat aus, der sich selbst genügt, sondern es geht davon aus, dass dieser Staat ein Glied ist des vereinten Europa."
Dies kann aber nicht bedeuten, dass die Demokratie deshalb Schaden nehmen darf. Die Karlsruher Richter gehen davon aus, dass es zwei Ebenen der Mitsprache der Bürger und damit auch zwei Quellen demokratischer Legitimation für die EU gibt. Einmal die Wahl der nationalen Parlamente. Auf sie stützt sich die Bundesregierung, die wiederum im Rat der Europäischen Union vertreten ist. Daneben steht die zweite Säule, das direkt gewählte Europäische Parlament. In der Maastricht-Entscheidung sahen die Richter hier allerdings noch deutliche Defizite, so Uerpmann-Wittzack:
"Das Bundesverfassungsgericht war 1993 noch sehr skeptisch gegenüber dem Europäischen Parlament, das damals noch eine schwache Stellung hatte und kaum Einfluss nehmen konnte. Deswegen hat es gesagt, dass die Legitimation der Europäischen Union vorrangig über die nationale Schiene laufen muss, also über Bundestag und Bundesregierung. Dem Europäischen Parlament könne, so das Bundesverfassungsgericht damals, nur eine ergänzende Legitimationswirkung zukommen."
Tatsächlich begründen die Richter des Zweiten Senats diese Skepsis gegenüber einer originär europäischen Demokratie nicht nur mit den als zu schwach befundenen Kompetenzen des EU-Parlaments. Demokratie, so fordern sie vielmehr, hat auch gesellschaftliche Voraussetzungen, die weit vor der Staatsorganisation liegen, wie der Senatsvorsitzende Ernst-Gottfried Mahrenholz 1993 ausführte:
"Demokratie sollte nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln, und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. Dazu gehört auch, dass die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind und ebenso, dass der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann."
Der Anspruch an das Miteinander in einer demokratischen Gemeinschaft, dessen Erfüllung schwer an klaren Kriterien messbar ist, ist in jedem Fall hoch. Was die Richter 1993 formulierten, ist eine Entwicklung, ein Prozess. Diesen zu fördern, sei nur zum Teil Aufgabe des Staates:
"Derartige tatsächliche Bedingungen können sich, soweit sie noch nicht bestehen, im Verlauf der Zeit im institutionellen Rahmen der Europäischen Union entwickeln. Eine solche Entwicklung hängt nicht zuletzt davon ab, dass die Ziele der Gemeinschaftsorgane und die Abläufe ihrer Entscheidungen in die Nationen vermittelt werden. Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermag."
Soweit die Basis, auf der die Richter jetzt den Reform-Vertrag überprüfen müssen – wenn sie denn bei diesen Kriterien bleiben. Ihr Spielraum bleibt allerdings groß. Nicht nur wegen der Natur der Argumente, die in ihrer staatstheoretischen Anlage notwendig schwer zu konkretisieren sind. Sondern auch, weil sich die Union selbst inzwischen gewandelt hat. Zu der Frage, wie viel dem deutschen Bundestag an Mitsprachemöglichkeiten bleiben muss, sagt der Staats- und Völkerrechtler Uerpmann-Wittzack:
"Die Entscheidung ist insoweit mehrdeutig. Sie ist offen. Es wird relativ deutlich betont in der Maastricht-Entscheidung, dass diese Entscheidung gilt für den – wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat – gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Union. Das heißt: Für den damaligen Stand der Union. Mittlerweile hat sich die Union fortentwickelt."
Nach dem "Vertrag von Nizza" aus dem Jahr 2000, der die schwerfällige EU fit machen sollte, für die anstehende Erweiterung von 15 auf 27 Staaten, wollten die europäischen Staats- und Regierungschef der Gemeinschaft, einem völkerrechtlich und staatsrechtlich nur schwer zu definierenden Subjekt, eine eigene "Verfassung" geben - nicht zuletzt um objektive Schwächen des Nizzaer Vertrages zu korrigieren. Der "Verfassungsvertrag" konnte zwar keine klassische Verfassung im nationalstaatlichen Sinne sein, auf Staatssymbole wie Fahne und Hymne wollte man aber nicht verzichten.
Nachdem die "EU-Verfassung" im Frühsommer 2005 bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, wurden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den von Bundestag und Bundesrat ratifizierten Verfassungsvertrag gegenstandslos. Im ersten Halbjahr 2007 unternahm die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft einen zweiten Anlauf, Europa "transparenter, demokratischer und effizienter" zu machen, so jedenfalls der Anspruch.
Während der portugiesischen Ratspräsidentschaft einigten sich die Staats- und Regierungschefs im Oktober 2007 auf den "Vertrag von Lissabon", auch "Reformvertrag" genannt - unter Verzicht auf symbolische Elemente wie Flagge, Hymne und die Bezeichnung "Verfassung".
Der "Vertrag von Lissabon", gegen den die Bundestagsfraktion "Die Linke" und der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler klagen, stimmt inhaltlich fast vollständig mit den Regelungen des gescheiterten Verfassungsvertrags überein. Die Argumente, die die Kläger in Karlsruhe vorgebracht hatten, sind denn im Prinzip auch dieselben, die jetzt gegen den Reformvertrag vorgebracht werden.
Nach Ansicht der Linksfraktion entspricht der Vertrag in seiner Gesamtheit nicht den Erfordernissen einer demokratischen, sozialen, friedlichen und umweltbewahrenden europäischen Integration. Sie sieht darin eine "Militarisierung", durch "Aufrüstungspflichten" und weltweit ermöglichte militärische Interventionen, die vom Grundgesetz nicht gedeckt seien. Sie kritisiert eine angebliche Festlegung auf die Grundsätze eines "neoliberalen Finanzmarktkapitalismus" und einen Verzicht auf das Sozialstaatsgebot. Das Zustimmungsgesetz zum "Vertrag von Lissabon" sei verfassungswidrig, weil es den Schutz der menschlichen Würde unter den Vorbehalt der Dienstleistungsfreiheit stelle.
Urteile des Europäischen Gerichtshofs und dessen Rolle im "Vertrag von Lissabon" haben es dem Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion, Gregor Gysi, besonders angetan.
"Das Bundesverfassungsgericht verliert durch 'Lissabon' Befugnisse, und zwar an den Europäischen Gerichtshof. Nun ist ja die Frage: In welchen Bereichen ist das in Ordnung und in welchen Bereichen ist das nicht in Ordnung? Und es gibt Kernfragen des Grundgesetzes, zum Beispiel die Würde des Menschen. Und ich sage mal, für mich berührt die Frage der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zum Vergabegesetz die Würde des Menschen."
Der EuGH schütze zwar bestimmte Grundfreiheiten des Kapitals, wie Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, nicht aber Arbeitnehmer-Rechte.
"Niedersachsen hat ein Vergabegesetz. In dem Vergabegesetz steht drin, dass ein öffentlicher Auftrag nur an ein Unternehmen gehen darf, das die örtlich üblichen Tariflöhne bezahlt. Daraufhin geht ein Unternehmen, das viel geringere Löhne bezahlt und auch an öffentliche Aufträge heran will, bis zum Europäischen Gerichtshof, und der Europäische Gerichtshof hebt das Vergabegesetz auf und sagt: Auch mit unwürdigen Löhnen muss man eine Chance auf diese öffentlichen Aufträge haben."
Zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, argumentiert "Die Linke" weiter, würden hoheitliche Eingriffe in Freiheitsrechte zentral ermöglicht ohne erforderliche Gegengewichte und ohne ausreichende parlamentarische Kontrolle. Demokratischen Grundprinzipien widerspreche auch eine weitere "Bürokratisierung der Organe der EU", eine unzureichende demokratische Willensbildung, vor allem das mangelnde Initiativrecht des Europäischen Parlaments und die in den meisten Mitgliedstaaten fehlende Mitentscheidung der Bevölkerung über Grundfragen, die die Europäische Union beträfen. Vorhaltungen, dass die Argumente der Linksfraktion weitgehend politischer und weniger verfassungsrechtlicher Natur seien, entgegnet Gregor Gysi:
"Man kann ja nur zum Bundesverfassungsgericht gehen, wenn man meint, dass etwas Grundgesetzwidriges beschlossen worden ist. Aber das Grundgesetz ist immer auch politischer Natur. Das lässt sich juristisch und politisch ja gar nicht wirklich voneinander trennen."
Bei aller Kritik am "Vertrag von Lissabon" nicht missverstanden werden will Gregor Gysi in einem ihm wichtigen Punkt:
"Ich will ja die europäische Integration. Ich finde sie ja richtig. Die europäische Integration verhindert Kriege zwischen den Mitgliedsländern. Sie macht uns ökonomisch viel stärker. Wir hätten sonst im Vergleich zu den USA, zu Japan und anderen Ländern ja gar keine reale Chance. Aber ich muss doch die europäische Integration so organisieren, dass die Menschen sie als Gewinn erfahren. Da die Menschen aber Ängste damit verbinden, dann müssen wir die europäische Integration anders organisieren - nicht so wie in Lissabon."
Der "Vertrag von Lissabon", darin sind sich linke wie rechte Kritiker einig, verstoße gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 GG, weil für die Europäische Rechtsetzung kein ausreichendes Niveau der demokratischen Legitimation geschaffen werde. Das gelte zum einen für das Europaparlament Trotz der Erweiterung seiner Rechte im "Vertrag von Lissabon" blieben viele Kompetenzen ausschließlich beim Europäischen Rat, also bei der Vertretung der Regierungen der Mitgliedstaaten. Der Rat selbst jedoch gewährleiste auch kein ausreichendes Niveau demokratischer Legitimation, da er nur höchst mittelbar an die Willensbildung des Volkes gebunden sei. Zudem sei er für die EU Legislative und Exekutive zugleich. Ein Verstoß gegen die im Grundgesetz verankerte Gewaltenteilung.
Höhlt der Vertrag von Lissabon also das Grundgesetz aus? Träte die Bundesrepublik mit seiner Ratifizierung ein Übermaß an Souveränität an Brüssel ab? Für den Staats- und Völkerrechtler Robert Uerpmann-Wittzak ist es zweifelhaft, ob es wirklich eine Grenze gibt, von der an zuviel Souveränität aufgegeben wird.
"Früher war man davon ausgegangen: Entweder Deutschland ist stark, oder die Europäische Union ist stark. Man hat sich vorgestellt, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, wo die Staatlichkeit kippt, wo die Union zum Staat erstarkt und wo Deutschland kein Staat mehr ist. Und heutzutage wird die europäische Integration nicht mehr in diesem Dualismus gedacht - entweder Deutschland ist stark oder die Europäische Union -, sondern wir gehen heutzutage aus von einem Mehrebenen-System, in dem Deutschland als Staat bestehen bleibt und auch nicht in Frage gestellt wird, aber wir eine Einbindung haben. Auch die Union kann sich weiterentwickeln, ohne dass dadurch die Staatlichkeit Deutschlands in Frage gestellt würde."
Jetzt liegt der Ball liegt bei den Verfassungsrichtern in Karlsruhe. Diese haben klargestellt, dass sie die Klagen ernsthaft prüfen wollen. Noch ist unklar, ob mündlich verhandelt wird. Klar ist aber schon: Entschieden wird eher im kommenden als in diesem Jahr. Das bedeutet, der Zeitplan für die Ratifizierung des Reformvertrages ist nicht nur wegen des irischen Neins, der Weigerung des polnischen Präsidenten zu unterschreiben und der Prüfung durch das tschechische Verfassungsgericht, sondern auch wegen Deutschland, wegen der Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, nicht mehr einzuhalten.
Und so wird denn, aller Voraussicht nach, das Europäische Parlament im Juni nächsten Jahres nach den Bestimmungen des "Vertrages von Nizza" - und nicht nach den demokratischeren Regeln des Lissaboner Vertrages - gewählt. Ob dieser jemals von allen 27 EU-Staaten akzeptiert wird, ist heute offener als zuvor.
"Köhler unterzeichnet Urkunde zum Lissabon-Vertrag vorerst nicht."
Die Nachricht hat eine andere Qualität als die polnischen Zweifel, erst Recht als das irische Nein zu dem Vertragswerk, das die Europäische Union auf eine neue Grundlage stellen soll: Das Bundespräsidialamt begründete die Entscheidung Horst Köhlers nicht etwa mit Skepsis gegenüber dem Inhalt. Stattdessen heißt es in der dürren Pressemitteilung:
"Angesichts vorliegender Anträge auf einstweilige Anordnung folgt der Bundespräsident damit einer Bitte des Bundesverfassungsgerichtes."
Die Bitte gab es. Der Hintergrund ist ein völkerrechtlicher: Sobald der Bundespräsident die Urkunde unterschreibt und anschließend am EU-weit vereinbarten Ort Rom hinterlegt, wäre sie international für Deutschland verbindlich. Horst Köhler hätte damit Fakten geschaffen. Und das vor der ausstehenden Entscheidung der Karlsruher Richter zur Vereinbarkeit des Vertragswerks mit dem Grundgesetz.
Es klagen vor dem Bundesverfassungsgericht: Der CSU-Politiker Peter Gauweiler auf der einen Seite, dem es um die deutsche Souveränität und das Grundgesetz geht. In einer der in seinem Auftrag verfassten Klageschriften heißt es:
"Aus Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz folgt, dass die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte an die Europäische Union nur unter der Voraussetzung übertragen darf, dass die Europäische Union den geschützten fundamentalen Verfassungsprinzipien entspricht."
Diese Anforderungen erfüllt die EU, nach Ansicht Gauweilers, nicht.
Auf der anderen Seite klagt die Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag. Sie bemängelt auch konkrete Inhalte des Vertrages. Ihr Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi:
"Erstens: Es kommt Militär hinzu. Dieses Militär soll sogar intervenieren können. Also, das ist zum Beispiel eine Frage, die wir klären müssen. Jetzt komme ich zur zweiten Seite, die auch sehr spannend ist, wegen des Demokratiegewinns. Es gibt eine größere Verlagerung vom Bundestag und von anderen nationalen Parlamenten hin nach Europa. Und zwar nicht nur zum europäischen Parlament, das wäre ja noch vertretbar, sondern auch zur Exekutive.
Wir haben das Problem, dass der Europäische Gerichtshof und das europäische Recht so organisiert sind, dass bestimmte Kapitalverkehrsfreiheiten höher bewertet werden als soziale Grundrechte. Das widerspricht dem Grundgesetz. Und darum geht es uns."
Ob nun die Entscheidung des Bundespräsidenten, seine Unterschrift vorläufig nicht unter den Vertrag von Lissabon zu setzen "das falsche Signal" war, wie manche Europapolitiker kritisieren, oder ob es ein ganz normales Verfahren ist, wie andere beteuern - das Ergebnis ist das Gleiche. Deutschland ratifiziert den Lissabon-Vertrag einstweilen nicht.
Verfahren wie dieses gegen den EU-Reformvertrag haben Tradition in Karlsruhe: Von Anfang an haben die Verfassungsrichter den Prozess der europäischen Einigung aufmerksam begleitet. Kein Wunder, denn mit der Frage, was in Europa entschieden werden darf, geht spiegelbildlich die andere Frage einher: Die nach der eigenständigen Entscheidungsmacht Deutschlands, und damit nach der Reichweite des Grundgesetzes und auch der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts selbst.
Beim Streit um den Lissabon-Vertrag geht es um die grundlegende Anlage der künftigen Union, um die weitere Übertragung von Souveränitätsrechten, es geht um Demokratie und Nationalstaatlichkeit. Wie in dieser Tragweite schon einmal zuvor.
"Der Maastrichter Vertrag ist verfassungskonform. Wir können jetzt die Ratifikationsurkunde sofort hinterlegen. Das wird heute Abend in Rom bei der italienischen Regierung geschehen, und der Vertrag kann damit zum 1.11.1993 in Kraft treten."
Ein zufriedener Außenminister Klaus Kinkel trat am 12. Oktober 1993 vor die Mikrofone der Karlsruher Journalisten. Gerade hatte der Zweite Senat sein "Ja" zum Maastrichter Vertrag ausgesprochen, der die Staaten Europas stärker zusammenwachsen lassen sollte und mit dem die Einführung des Euro beschlossen wurde. Das "Ja" der Verfassungsrichter zum "Vertrag von Maastricht", entpuppte sich freilich bei näherem Hinsehen als ein "Ja, aber".
Die Fragen, um die es damals ging, waren ähnliche wie heute: Was passiert, wenn Deutschland immer mehr Entscheidungen aus der Hand gibt? Was wird aus den unverbrüchlichen Garantien des Grundgesetzes, vor allem aus dem Demokratieprinzip? Und wie weit darf die Bundesrepublik überhaupt auf ihre staatliche Souveränität verzichten?
Die Antwort der acht Richter war 1993 - was die Folgen für die demokratische Mitsprache betrifft - eher von Skepsis geprägt. In der Urteilsverkündung sagte der damalige Senatsvorsitzende Ernst Gottfried Mahrenholz:
"Werden supranationalen Organisationen Hoheitsrechte eingeräumt, verliert das vom Volk gewählte Repräsentationsorgan, der Deutsche Bundestag, und mit ihm der wahlberechtigte Bürger notwenig an Einfluss auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess."
Das "Aber" sollte jedoch keineswegs das "Aus" für den Vertrag von Maastricht bedeuten. Denn zum einen sahen die Richter einen gewissen Verlust an Einflussmöglichkeit als notwenige Folge einer vom Grundgesetz für möglich gehaltenen Einbindung in supranationale Zusammenhänge. Zum anderen aber erkannten die Richter auch:
"Der Mitgliedsstaat und mit ihm seine Bürger gewinnt freilich auch Einflussmöglichkeiten durch die Beteiligung an einer Willensbildung der Gemeinschaft zur Verfolgung gemeinsamer und damit auch eigener Zwecke, deren Ergebnis für alle Mitglieder verbindlich ist und deshalb auch die Anerkennung der eigenen Bindung voraussetzt."
Die Mitgliedschaft in einem zusammenwachsenden Europa sei vom Grundgesetz sogar gewollt, ergänzt der Regensburger Staats- und Völkerrechtsprofessor Robert Uerpmann-Wittzack:
"Die Bildung eines vereinten Europas ist ausdrücklich Ziel des Grundgesetzes. Schon in der Präambel des Grundgesetzes heißt es dazu: Deutschland sei ein gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa. Das heißt, das Grundgesetz geht nicht von einem souveränen Staat aus, der sich selbst genügt, sondern es geht davon aus, dass dieser Staat ein Glied ist des vereinten Europa."
Dies kann aber nicht bedeuten, dass die Demokratie deshalb Schaden nehmen darf. Die Karlsruher Richter gehen davon aus, dass es zwei Ebenen der Mitsprache der Bürger und damit auch zwei Quellen demokratischer Legitimation für die EU gibt. Einmal die Wahl der nationalen Parlamente. Auf sie stützt sich die Bundesregierung, die wiederum im Rat der Europäischen Union vertreten ist. Daneben steht die zweite Säule, das direkt gewählte Europäische Parlament. In der Maastricht-Entscheidung sahen die Richter hier allerdings noch deutliche Defizite, so Uerpmann-Wittzack:
"Das Bundesverfassungsgericht war 1993 noch sehr skeptisch gegenüber dem Europäischen Parlament, das damals noch eine schwache Stellung hatte und kaum Einfluss nehmen konnte. Deswegen hat es gesagt, dass die Legitimation der Europäischen Union vorrangig über die nationale Schiene laufen muss, also über Bundestag und Bundesregierung. Dem Europäischen Parlament könne, so das Bundesverfassungsgericht damals, nur eine ergänzende Legitimationswirkung zukommen."
Tatsächlich begründen die Richter des Zweiten Senats diese Skepsis gegenüber einer originär europäischen Demokratie nicht nur mit den als zu schwach befundenen Kompetenzen des EU-Parlaments. Demokratie, so fordern sie vielmehr, hat auch gesellschaftliche Voraussetzungen, die weit vor der Staatsorganisation liegen, wie der Senatsvorsitzende Ernst-Gottfried Mahrenholz 1993 ausführte:
"Demokratie sollte nicht lediglich formales Zurechnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln, und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. Dazu gehört auch, dass die Entscheidungsverfahren der Hoheitsgewalt ausübenden Organe und die jeweils verfolgten politischen Zielvorstellungen allgemein sichtbar und verstehbar sind und ebenso, dass der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann."
Der Anspruch an das Miteinander in einer demokratischen Gemeinschaft, dessen Erfüllung schwer an klaren Kriterien messbar ist, ist in jedem Fall hoch. Was die Richter 1993 formulierten, ist eine Entwicklung, ein Prozess. Diesen zu fördern, sei nur zum Teil Aufgabe des Staates:
"Derartige tatsächliche Bedingungen können sich, soweit sie noch nicht bestehen, im Verlauf der Zeit im institutionellen Rahmen der Europäischen Union entwickeln. Eine solche Entwicklung hängt nicht zuletzt davon ab, dass die Ziele der Gemeinschaftsorgane und die Abläufe ihrer Entscheidungen in die Nationen vermittelt werden. Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermag."
Soweit die Basis, auf der die Richter jetzt den Reform-Vertrag überprüfen müssen – wenn sie denn bei diesen Kriterien bleiben. Ihr Spielraum bleibt allerdings groß. Nicht nur wegen der Natur der Argumente, die in ihrer staatstheoretischen Anlage notwendig schwer zu konkretisieren sind. Sondern auch, weil sich die Union selbst inzwischen gewandelt hat. Zu der Frage, wie viel dem deutschen Bundestag an Mitsprachemöglichkeiten bleiben muss, sagt der Staats- und Völkerrechtler Uerpmann-Wittzack:
"Die Entscheidung ist insoweit mehrdeutig. Sie ist offen. Es wird relativ deutlich betont in der Maastricht-Entscheidung, dass diese Entscheidung gilt für den – wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat – gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Union. Das heißt: Für den damaligen Stand der Union. Mittlerweile hat sich die Union fortentwickelt."
Nach dem "Vertrag von Nizza" aus dem Jahr 2000, der die schwerfällige EU fit machen sollte, für die anstehende Erweiterung von 15 auf 27 Staaten, wollten die europäischen Staats- und Regierungschef der Gemeinschaft, einem völkerrechtlich und staatsrechtlich nur schwer zu definierenden Subjekt, eine eigene "Verfassung" geben - nicht zuletzt um objektive Schwächen des Nizzaer Vertrages zu korrigieren. Der "Verfassungsvertrag" konnte zwar keine klassische Verfassung im nationalstaatlichen Sinne sein, auf Staatssymbole wie Fahne und Hymne wollte man aber nicht verzichten.
Nachdem die "EU-Verfassung" im Frühsommer 2005 bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war, wurden Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den von Bundestag und Bundesrat ratifizierten Verfassungsvertrag gegenstandslos. Im ersten Halbjahr 2007 unternahm die EU unter deutscher Ratspräsidentschaft einen zweiten Anlauf, Europa "transparenter, demokratischer und effizienter" zu machen, so jedenfalls der Anspruch.
Während der portugiesischen Ratspräsidentschaft einigten sich die Staats- und Regierungschefs im Oktober 2007 auf den "Vertrag von Lissabon", auch "Reformvertrag" genannt - unter Verzicht auf symbolische Elemente wie Flagge, Hymne und die Bezeichnung "Verfassung".
Der "Vertrag von Lissabon", gegen den die Bundestagsfraktion "Die Linke" und der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler klagen, stimmt inhaltlich fast vollständig mit den Regelungen des gescheiterten Verfassungsvertrags überein. Die Argumente, die die Kläger in Karlsruhe vorgebracht hatten, sind denn im Prinzip auch dieselben, die jetzt gegen den Reformvertrag vorgebracht werden.
Nach Ansicht der Linksfraktion entspricht der Vertrag in seiner Gesamtheit nicht den Erfordernissen einer demokratischen, sozialen, friedlichen und umweltbewahrenden europäischen Integration. Sie sieht darin eine "Militarisierung", durch "Aufrüstungspflichten" und weltweit ermöglichte militärische Interventionen, die vom Grundgesetz nicht gedeckt seien. Sie kritisiert eine angebliche Festlegung auf die Grundsätze eines "neoliberalen Finanzmarktkapitalismus" und einen Verzicht auf das Sozialstaatsgebot. Das Zustimmungsgesetz zum "Vertrag von Lissabon" sei verfassungswidrig, weil es den Schutz der menschlichen Würde unter den Vorbehalt der Dienstleistungsfreiheit stelle.
Urteile des Europäischen Gerichtshofs und dessen Rolle im "Vertrag von Lissabon" haben es dem Fraktionsvorsitzenden der Linksfraktion, Gregor Gysi, besonders angetan.
"Das Bundesverfassungsgericht verliert durch 'Lissabon' Befugnisse, und zwar an den Europäischen Gerichtshof. Nun ist ja die Frage: In welchen Bereichen ist das in Ordnung und in welchen Bereichen ist das nicht in Ordnung? Und es gibt Kernfragen des Grundgesetzes, zum Beispiel die Würde des Menschen. Und ich sage mal, für mich berührt die Frage der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zum Vergabegesetz die Würde des Menschen."
Der EuGH schütze zwar bestimmte Grundfreiheiten des Kapitals, wie Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit, nicht aber Arbeitnehmer-Rechte.
"Niedersachsen hat ein Vergabegesetz. In dem Vergabegesetz steht drin, dass ein öffentlicher Auftrag nur an ein Unternehmen gehen darf, das die örtlich üblichen Tariflöhne bezahlt. Daraufhin geht ein Unternehmen, das viel geringere Löhne bezahlt und auch an öffentliche Aufträge heran will, bis zum Europäischen Gerichtshof, und der Europäische Gerichtshof hebt das Vergabegesetz auf und sagt: Auch mit unwürdigen Löhnen muss man eine Chance auf diese öffentlichen Aufträge haben."
Zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, argumentiert "Die Linke" weiter, würden hoheitliche Eingriffe in Freiheitsrechte zentral ermöglicht ohne erforderliche Gegengewichte und ohne ausreichende parlamentarische Kontrolle. Demokratischen Grundprinzipien widerspreche auch eine weitere "Bürokratisierung der Organe der EU", eine unzureichende demokratische Willensbildung, vor allem das mangelnde Initiativrecht des Europäischen Parlaments und die in den meisten Mitgliedstaaten fehlende Mitentscheidung der Bevölkerung über Grundfragen, die die Europäische Union beträfen. Vorhaltungen, dass die Argumente der Linksfraktion weitgehend politischer und weniger verfassungsrechtlicher Natur seien, entgegnet Gregor Gysi:
"Man kann ja nur zum Bundesverfassungsgericht gehen, wenn man meint, dass etwas Grundgesetzwidriges beschlossen worden ist. Aber das Grundgesetz ist immer auch politischer Natur. Das lässt sich juristisch und politisch ja gar nicht wirklich voneinander trennen."
Bei aller Kritik am "Vertrag von Lissabon" nicht missverstanden werden will Gregor Gysi in einem ihm wichtigen Punkt:
"Ich will ja die europäische Integration. Ich finde sie ja richtig. Die europäische Integration verhindert Kriege zwischen den Mitgliedsländern. Sie macht uns ökonomisch viel stärker. Wir hätten sonst im Vergleich zu den USA, zu Japan und anderen Ländern ja gar keine reale Chance. Aber ich muss doch die europäische Integration so organisieren, dass die Menschen sie als Gewinn erfahren. Da die Menschen aber Ängste damit verbinden, dann müssen wir die europäische Integration anders organisieren - nicht so wie in Lissabon."
Der "Vertrag von Lissabon", darin sind sich linke wie rechte Kritiker einig, verstoße gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 GG, weil für die Europäische Rechtsetzung kein ausreichendes Niveau der demokratischen Legitimation geschaffen werde. Das gelte zum einen für das Europaparlament Trotz der Erweiterung seiner Rechte im "Vertrag von Lissabon" blieben viele Kompetenzen ausschließlich beim Europäischen Rat, also bei der Vertretung der Regierungen der Mitgliedstaaten. Der Rat selbst jedoch gewährleiste auch kein ausreichendes Niveau demokratischer Legitimation, da er nur höchst mittelbar an die Willensbildung des Volkes gebunden sei. Zudem sei er für die EU Legislative und Exekutive zugleich. Ein Verstoß gegen die im Grundgesetz verankerte Gewaltenteilung.
Höhlt der Vertrag von Lissabon also das Grundgesetz aus? Träte die Bundesrepublik mit seiner Ratifizierung ein Übermaß an Souveränität an Brüssel ab? Für den Staats- und Völkerrechtler Robert Uerpmann-Wittzak ist es zweifelhaft, ob es wirklich eine Grenze gibt, von der an zuviel Souveränität aufgegeben wird.
"Früher war man davon ausgegangen: Entweder Deutschland ist stark, oder die Europäische Union ist stark. Man hat sich vorgestellt, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, wo die Staatlichkeit kippt, wo die Union zum Staat erstarkt und wo Deutschland kein Staat mehr ist. Und heutzutage wird die europäische Integration nicht mehr in diesem Dualismus gedacht - entweder Deutschland ist stark oder die Europäische Union -, sondern wir gehen heutzutage aus von einem Mehrebenen-System, in dem Deutschland als Staat bestehen bleibt und auch nicht in Frage gestellt wird, aber wir eine Einbindung haben. Auch die Union kann sich weiterentwickeln, ohne dass dadurch die Staatlichkeit Deutschlands in Frage gestellt würde."
Jetzt liegt der Ball liegt bei den Verfassungsrichtern in Karlsruhe. Diese haben klargestellt, dass sie die Klagen ernsthaft prüfen wollen. Noch ist unklar, ob mündlich verhandelt wird. Klar ist aber schon: Entschieden wird eher im kommenden als in diesem Jahr. Das bedeutet, der Zeitplan für die Ratifizierung des Reformvertrages ist nicht nur wegen des irischen Neins, der Weigerung des polnischen Präsidenten zu unterschreiben und der Prüfung durch das tschechische Verfassungsgericht, sondern auch wegen Deutschland, wegen der Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, nicht mehr einzuhalten.
Und so wird denn, aller Voraussicht nach, das Europäische Parlament im Juni nächsten Jahres nach den Bestimmungen des "Vertrages von Nizza" - und nicht nach den demokratischeren Regeln des Lissaboner Vertrages - gewählt. Ob dieser jemals von allen 27 EU-Staaten akzeptiert wird, ist heute offener als zuvor.