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Endstation Karlsruhe?

Zwei ganze Tage haben die Verfassungsrichter für die öffentliche Verhandlung angesetzt: Juristen werten das als Beleg dafür, dass sie die Bedenken der Kläger gegen den Lissabonner Vertrag sehr ernst nehmen.

Von Alois Berger | 09.02.2009
    Im Kern geht es in Karlsruhe um die Frage, ob Bundestag und Bundesrat mit der Ratifizierung des Lissabonner Vertrages mehr Rechte und mehr Kompetenzen an die Europäische Union abtreten, als das deutsche Grundgesetz erlaubt.
    Die Kläger zumindest sehen das so. Dabei könnten ihre Motive kaum unterschiedlicher sein. Auf der einen Seite der CSU-Politiker Peter Gauweiler, der um die Souveränität des deutschen Nationalstaates fürchtet. Auf der anderen Seite die Partei "Die Linke", die in der Europäischen Union vor allem eine neoliberale Veranstaltung sieht. Der Lissabonner Vertrag höhle den deutschen Sozialstaat aus, begründet ihr Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi die Klage. Die Reform der EU trage zur Aufrüstung Europas bei:

    "Erstens: Es kommt Militär hinzu. Dieses Militär soll sogar intervenieren können. Also, das ist zum Beispiel eine Frage, die wir klären müssen. Jetzt komm' ich zur zweiten Seite, die auch sehr spannend ist, wegen des Demokratiegewinns. Es gibt eine größere Verlagerung vom Bundestag und von anderen nationalen Parlamenten hin nach Europa. Und zwar nicht nur zum europäischen Parlament, das wäre ja noch vertretbar, sondern auch zur Exekutive. Wir haben das Problem, dass der Europäische Gerichtshof und das europäische Recht so organisiert sind, dass bestimmte Kapitalverkehrsfreiheiten höher bewertet werden als soziale Grundrechte. Das widerspricht dem Grundgesetz. Und darum geht's uns."
    Die Linken kritisieren also den Inhalt des Lissabonner Vertrages, die politische Richtung, die Europa ihrer Ansicht nach damit einschlägt. Anders argumentiert der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler. Er wird unterstützt von den Verfassungsrechtlern Dietrich Murswiek und Karl-Albrecht Schachtschneider, Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg.
    Für Schachtschneider wie für Gauweiler geht es um den Erhalt des deutschen Nationalstaates. Ihrer Ansicht nach fehlt der Europäischen Union die erforderliche demokratische Grundstruktur, um ihr weitere Kompetenzen zu übertragen.
    Alle Staatsgewalt muss vom Volk ausgehen, so schreibt es das deutsche Grundgesetz vor. Doch in der Europäischen Union sei das deutsche Volk nicht ausreichend vertreten, meint Karl Albrecht Schachtschneider, schon gar nicht im Europäischen Parlament:

    "Erstens vertritt es kein Volk, das europäische Volk, das Unionsvolk gibt es nicht, es müsste kreiert werden durch einen europäischen mühsamen Prozess. Das würde bedeuten dass alle Völker ihren Kernsatz, der in Deutschland heißt, alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aufgeben und sagen: zum Teil geht alle Staatsgewalt vom Unionsvolk aus. Das müsste erst einmal geschaffen werden. Alle Völker müssten dem durch Referendum zustimmen, das wäre nicht zu erwarten. Das ist ein großer Mangel. Mindestens genauso wichtig ist der Mangel, dass die Vertreter des europäischen Parlaments nicht gleichheitlich, egalitär, gewählt werden."
    Denn Luxemburg hat sechs Sitze im Europaparlament, das 200 mal größere Deutschland 99 Sitze. Ein Luxemburger Abgeordneter vertritt damit 66.000 Bürger, ein deutscher Europaparlamentarier dagegen 800.000.
    Dass es praktisch nicht anders möglich ist, das wissen auch der CSU-Politiker Gauweiler und der Verfassungsrechtler Schachtschneider. Wollte man eine völlig egalitäre Vertretung, müssten im Europaparlament neben sechs Luxemburger Abgeordneten 1200 deutsche Parlamentarier sitzen. Ein solches Parlament hätte 7000 Abgeordnete. Gäbe man den Luxemburgern aber nur einen oder zwei Abgeordnete, dann würden die politischen Verhältnisse dort völlig verzerrt wiedergegeben.
    Doch Gauweiler wie Schachtschneider argumentieren streng juristisch. In der im Auftrag von Gauweiler erstellten Begründung der Klage heißt es:

    Zu den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Prinzipien gehören nicht nur das Demokratieprinzip, das Rechtsstaats- und das Sozialstaatsprinzip, sondern auch der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.
    Diese Staatlichkeit sei in Gefahr, meinen die Kläger, sie werde von der Europäischen Union ausgehöhlt. Der Lissabonner Vertrag sei ein weiterer Schritt in diese Richtung.
    Dabei gehen die konservativen Kläger allerdings der zentralen Frage aus dem Weg: wie weit ist die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Europäische Union nützlich und vielleicht sogar notwendig, um die Grundrechte der deutschen Bürger zu schützen? Dieser Aspekt taucht in der Klageschrift von Peter Gauweiler mit keinem Wort auf.
    Dabei war die Übertragung von Aufgaben an die Europäische Union nie Selbstzweck. Es ging immer darum, Probleme zu lösen, die einzelne Regierungen nicht mehr lösen konnten. Keine Regierung gibt gerne Entscheidungsbefugnisse ab, nicht in der Wirtschaftspolitik, nicht im Umweltschutz und nicht im Arbeitsrecht. Wenn die Regierungen Kompetenzen nach Brüssel übertragen haben, dann, weil ihnen in einer globalisierten Politik und Wirtschaft die Kontrolle verloren zu gehen drohte.
    Für Jo Leinen, SPD-Europaabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen, bringt der Lissabonner Vertrag deshalb auch keinen Souveränitätsverzicht mit sich:

    "In der Tat geht ja Souveränität nicht verloren, sondern sie wird gemeinsam mit anderen geteilt zum Nutzen aller. Und wenn man das Resultat von 50 Jahren europäischer Einigung ansieht, dann muss man ja sagen, dass Freiheit, dass Sicherheit, dass Wohlstand unter dem Strich vergrößert wurden zum Nutzen aller. "
    Anders als die konservativen Kläger um den CSU-Politiker Gauweiler hat die Partei "Die Linke" keine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Europäischen Union, wie Fraktionschef Gregor Gysi betont:

    "Ich will ja die europäische Integration. Ich finde sie ja richtig. Die europäische Integration verhindert Kriege zwischen den Mitgliedsländern. Sie macht uns ökonomisch viel stärker. Wir hätten sonst im Vergleich zu den USA, zu Japan und anderen Ländern ja gar keine reale Chance. Aber ich muss doch die europäische Integration so organisieren, dass die Menschen sie als Gewinn erfahren. Da die Menschen aber Ängste damit verbinden, dann müssen wir die europäische Integration anders organisieren - nicht so wie in Lissabon. "
    Die Europäische Union sei nicht ausreichend demokratisch aufgebaut, so Gregor Gysi, um ihr weitere Hoheitsrechte anzuvertrauen. In diesem Punkt treffen sich rechte wie linke Kritiker des Lissabonner Vertrages. Dass beide Seiten das Demokratiedefizit der EU in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen, hat einen einfachen Grund: Als das Bundesverfassungsgericht vor gut 15 Jahren über den Vertrag von Maastricht befand, kritisierten die Richter vor allem die Demokratielücken im europäischen System.
    Die Urteilsbegründung von 1993 wird in diesen Tagen wieder viel gelesen. Denn sie beleuchtet die juristischen Kriterien, die die Verfassungsrichter damals an den Maastrichter Vertrag anlegten und die sie vermutlich jetzt auch an den Lissabonner Vertrag anlegen werden.
    Der Maastrichter Vertrag steht für die Einführung des Euro und den Ausbau der politischen Zusammenarbeit in Europa. Die Kläger kritisierten damals, der deutsche Gesetzgeber gebe damit zu viele Entscheidungen aus der Hand.
    Der Erlanger Rechtsprofessor Karl Albrecht Schachtschneider war damals schon dabei: 1993 verfasste er im Auftrag des nationalliberalen Politikers Manfred Brunner die Klageschrift gegen Maastricht. Ziel war die Verhinderung des Euro.
    Dass sich die Einführung der Gemeinschaftswährung rückwirkend als vernünftig erwiesen hat, will Schachtschneider heute nicht gelten lassen. Auch nicht, dass der Euro gerade in der aktuellen Finanzkrise die früher üblichen Währungsspekulationen verhindert hat.

    "Das ist eine äußerst schwierig zu beurteilende ökonomische Frage. Ich folge dem gar nicht, dass der Euro uns stärkt in der Finanzkrise. Ich denke, dass die Finanzhoheit, die ja die Mitgliedsstaaten ja nur noch sehr begrenzt haben, vielleicht das bessere Mittel wäre, um mit der Finanzkrise fertig zu werden. Oder wenn man die Finanzkrise gar nicht ermöglicht hätte durch den globalen Finanzverkehr, der ist ja das das wirkliche Unglück."
    Es gibt nicht viele Wirtschaftsexperten, die diese Ansicht teilen. Der Rückzug in den abgeschotteten Nationalstaat zählt heute nicht mehr zu den ernsthaft diskutierten Wirtschaftskonzepten.
    Die Karlsruher Verfassungsrichter, die 1993 über die Maastricht-Klagen zu befinden hatten, ließen sich auf solche Argumentationen ohnehin nicht ein. Sie hatten nicht die wirtschaftlichen Auswirkungen zu prüfen, sondern, wie weit die Ausweitung der Europäischen Kompetenzen mit dem Grundgesetz zu vereinbaren war.
    Die Verfassungsrichter bestätigten schließlich - trotz erheblicher Skepsis - die Rechtmäßigkeit des Maastrichter Vertrages. Sie verwiesen auf die Präambel des Grundgesetzes, in dem ein vereintes Europa ausdrücklich als Ziel der deutschen Politik erwähnt ist. Der damalige Senatsvorsitzende Ernst Gottfried Mahrenholz räumte zwar ein, dass der wahlberechtigte Bürger durch die Übertragung von Hoheitsrechten an Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess verliere. Aber er bekomme auch etwas dafür zurück, so Mahrenholz in der damaligen Urteilsbegründung:

    "Der Mitgliedsstaat und mit ihm seine Bürger gewinnt freilich auch an Einflussmöglichkeiten durch die Beteiligung an einer Willensbildung der Gemeinschaft zur Verfolgung gemeinsamer und damit auch eigener Zwecke, deren Ergebnis für alle Mitglieder verbindlich ist und deshalb auch die Anerkennung der eigenen Bindung voraussetzt. "
    Doch die Verfassungsrichter hoben auch deutlich den Zeigefinger. Sie verwiesen auf die unfertige Demokratie in der Europäischen Union und äußerten Zweifel, ob deutsche Verfassungsprinzipien wie Rechts- und Sozialstaatlichkeit in dieser EU in guten Händen seien.
    In einigen juristischen Kommentaren wird das Urteil von 1993 so gewertet, dass die Verfassungsrichter die im den Maastrichter Vertrag angelegten Kompetenzübertragungen an die Europäische Union gerade noch für zulässig erachteten. Mit anderen Worten: Bis hierher und nicht weiter.
    Die Kläger gegen den Lissabonner Vertrag greifen diese Argumentation auf. Sie berufen sich vor allem auf die damalige Kritik des Bundesverfassungsgerichtes an den demokratischen Defiziten. Dabei geht es nicht nur um das Europäische Parlament, sondern auch um die Frage, ob es eine europäische Öffentlichkeit gibt, die politische Themen europaweit diskutiert. Demokratie sei mehr als nur die Beteiligung an Wahlen, hatte 1993 der Senatsvorsitzende Mahrenholz gewarnt:

    "Demokratie sollte nicht lediglich formales Zuordnungsprinzip bleiben, ist vom Vorhandensein bestimmter Vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln, und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen vorformt. "
    Übertragen auf den Lissabonner Vertrag bedeutet das, dass sich die Karlsruher Richter vermutlich auf zwei Fragenbereiche konzentrieren werden:
    Zum einen wird das Bundesverfassungsgericht klären müssen, ob der Lissabonner Vertrag tatsächlich wesentliche neue Zuständigkeiten nach Brüssel verlagert, wie die Kläger behaupten. Oder dieser Vertrag nur die bestehenden Kompetenzen klärt und abgrenzt, wie die Bundesregierung sagt.
    Zum anderen werden sich die Verfassungsrichter den Stand der Demokratieentwicklung in der EU anschauen. Dass sich die demokratischen Strukturen der Europäischen Union seit 1993 verändert haben, steht außer Diskussion. Die Richter müssen allerdings überprüfen, ob der Demokratiezuwachs ausreicht, um die Übertragung neuer Kompetenzen zu rechtfertigen.
    Für den sozialdemokratischen Europa-Abgeordneten und Verfassungsexperten Jo Leinen ist die Antwort eindeutig. Vor 15 Jahren sei das Europaparlament in der Tat ein weitgehend machtloses Gremium gewesen, das bei wichtigen Entscheidungen angehört, aber nicht gefragt werden musste. Inzwischen jedoch habe das Parlament an Einfluss gewonnen. Mit dem Lissabonner Vertrag sieht Leinen das Europaparlament endgültig zum vollwertigen Gesetzgeber aufgewertet.

    "Dieser Vertrag von Lissabon ist wirklich ein Quantensprung an demokratischer Beteiligung und Stärkung aller Parlamente."
    Aller Parlamente in Europa - denn die Reform der Europäischen Institutionen stellt nicht nur das Europaparlament als gleichwertigen Gesetzgeber neben den EU-Ministerrat, in dem die Regierungen vertreten sind. Der neue Vertrag sieht auch eine stärkere Mitwirkung der nationalen Parlamente an EU-Gesetzen vor.
    Ob die Karlsruher Richter das für ausreichend erachten, wird man sehen. Die Diskussion um die demokratische Reife der Europäischen Union könnte allerdings hinfällig werden, wenn die Verfassungsrichter vorher zu dem Schluss kommen, dass der Lissabonner Vertrag gar keine neuen Aufgaben an die EU überträgt. Nach Ansicht des Völkerrechtlers Professor Rolf Schwartmann ist der Lissabonner Vertrag das falsche Vehikel, um der EU Machtgier vorzuwerfen.

    "Lissabon dient nicht dazu, die Stunde der Integrierer wieder neu erwachen zu lassen. Es geht in dem Fall darum, die Osterweiterung in den Griff zu bekommen. Es geht nicht darum, Kompetenzübertragungen zu intensivieren, sondern es geht darum, das, was jetzt gerade nötig ist, nämlich Entscheidungsabläufe zu vereinfachen, instititutionelle Fragen zu klären, eben auch wirklich hinzubekommen. Und dazu ist das gut. "

    In der Tat stand der Lissabonner Vertrag von Beginn an unter dem Zeichen der Kompetenzbegrenzung der EU und nicht der Ausweitung.
    Als die Regierungschefs 1998 zum EU-Gipfel nach Cardiff reisten, hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ein ziemlich giftiges Papier im Gepäck. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer verlangten, dem wachsenden Einfluss Brüssels Grenzen zu setzen.
    Der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, verlangte eine klare Abgrenzung der europäischen Kompetenzen. Sein bayerischer Amtskollege Stoiber assistierte mit dem Vorschlag einer "Charta der europäischen Zuständigkeiten". Mit anderen Worten: Es solle endlich festgelegt werden, was Brüssel darf und wo die Europäische Union künftig die Finger herauslassen müsse.
    Gleichzeitig zeichnete sich ab, dass sich die mittel- und osteuropäischen Länder nicht so lange vor der Tür halten ließen, wie die Regierungschefs das gerne gehabt hätten. Neue Entscheidungsstrukturen waren nötig, um mit 27 und mehr Ländern zurecht zu kommen.
    Aus der notwendigen Neuordnung der Entscheidungsstrukturen und den Forderungen nach einer deutlichen Eingrenzung der Zuständigkeiten der EU entwickelte sich das Projekt der Europäischen Verfassung.

    Nachdem diese bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 1995 scheiterte, versuchten die EU-Regierungschefs wenigstens die Teile zu retten, die für das Funktionieren der erweiterten Union nötig sind. Das Ergebnis ist der Lissabonner Vertrag.
    Es ist ein schmuckloser Vertrag, dem man die Zurückweisungen ansieht, die er in den Mitgliedsländern erlitten hat. Er bringt der EU kaum neue Perspektiven, so gut wie keine neuen Zuständigkeiten. Der Lissabonner Vertrag konzentriert sich im Wesentlichen auf die Absicherung des Erreichten, auf bessere demokratische Legitimation, auf die überfällige Reparatur der sperrigen Entscheidungsverfahren. Von allem zu wenig, zu halbherzig, zu oft umgeschrieben, und deshalb nahezu unleserlich. Der Lissabonner Vertrag trägt vor allem die Handschrift der Euroskeptiker aller Länder.
    Selbst Professor Karl Albrecht Schachtschneider glaubt nicht wirklich, dass die Verfassungsrichter den Lissabonner Vertrag wegen Kompetenzüberschreitung zurückweisen werden.

    Ich rechne damit, dass interpretatorische Korrekturen vorgenommen werden. Insbesondere im vereinfachten Änderungsverfahren wird das Gericht die Einbeziehung des Parlaments einfordern und es wird andere Korrekturen vornehmen durch Interpretationen.
    Ein paar Fußnoten also, ein paar höchstrichterliche Vorgaben für die Auslegung des Textes.
    Nicht nur Europapolitiker, auch einige Rechtsprofessoren fragen sich, warum das Bundesverfassungsgericht diese Klage überhaupt angenommen hat und vor allem, warum sich die Richter mit der Behandlung so viel Zeit lassen. Denn damit machen sie in erheblichem Maße Politik.
    Gerade die deutsche Regierung bemüht sich
    darum, dass der Lissabonner Vertrag in Kraft tritt. Und sie ist nicht allein. Im deutschen Bundestag und im Bundesrat herrscht weitgehend Einigkeit, dass der Lissabonner Vertrag wichtig ist für die Sicherung der deutschen Interessen in Europa.
    Der Lissabonner Vertrag ist der derzeit kleinste gemeinsame Nenner der 27 EU-Regierungen. Er ist die womöglich letzte Chance, die Europäische Union auf dem erreichten Niveau handlungsfähig zu halten. 23 der 27 EU-Staaten haben den Lissabonner Vertrag inzwischen ratifiziert.

    Doch Widerstand gegen den Vertrag gibt es nicht nur in Irland, wo der Vertrag in einem ersten Referendum abgelehnt wurde. Auch in Tschechien und Polen wollen politische Kräfte den Vertrag noch zu Fall bringen mit dem Ziel, die Europäische Integration zurückzudrehen.
    Die Bundesregierung drängt auf rasche Zustimmung zum Vertrag, doch so lange Deutschland selbst nicht ratifiziert hat, fehlt ihr in Brüssel die Glaubwürdigkeit. Der Göttinger Staatsrechtler Christoph Möllers weist darauf hin, dass sich das Bundesverfassungsgericht schon mit der Annahme der Klage weit ins politische Feld vor wagt:

    "Es geht hier immerhin um ein Gesetz, das mit Zwei-Drittel-Mehrheit vom Bundesrat und Bundestag verabschiedet wurde und hinter dem natürlich im Grunde schon in einer repräsentativen Demokratie die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung steht."
    Die kritische Grundhaltung einiger Verfassungsrichter gegenüber der Europäischen Union und vor allem gegenüber dem Europäischen Gerichtshof ist bekannt. Das mag auch daran liegen, dass Karlsruhe bei europäischen Fragen immer auch in eigener Sache urteilt. Jede Zuständigkeit, die aus Deutschland an Europa übergeht, nimmt auch einen Teil der verfassungsrechtlichen Kontrollfunktionen mit, weg von Karlsruhe hin zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.