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Endstation Schlagbaum

Mehr als zwei Millionen Menschen sind innerhalb des Irak auf der Flucht, weitere zwei Millionen haben ihr Land bereits verlassen. Doch seit einigen Tagen ist auch noch der letzte Notausgang ins Ausland verschlossen: Syrien hat seine Grenzen für Flüchtlinge praktisch dicht gemacht.

Von Kristin Helberg |
    Eine staubige Straße in Damaskus´ konservativem Stadtteil Babila. In einem Laden ohne Namen stehen zehn Computer, an denen pubertierende Jungs vorzugsweise Krieg spielen. Eine der wenigen Abwechslungen in ihrem tristen Vorstadtalltag. Der Computerraum gehört drei Irakern, läuft jedoch auf den Namen eines Syrers, weil Flüchtlinge in Syrien offiziell nicht arbeiten dürfen. Mohammed ist einer der Betreiber. In Bagdad arbeitete der 41jährige Ingenieur für das Partnerunternehmen einer großen amerikanischen Firma bis er mit seiner Frau Yasmin und zwei Kindern vor einem Jahr nach Syrien flüchtete.

    "Wir wurden mehrfach bedroht. Zwei Angestellte der Firma wurden getötet, zwei weitere verletzt. Außerdem fühlte ich, wie die Leute über uns redeten, weil Yasmin kein Kopftuch trägt. Die meisten Nachbarn betrachteten uns als Ungläubige."

    Die verschiedenen Konfessionen stehen sich zunehmend feindselig gegenüber. Schiiten ziehen aus sunnitischen Stadtvierteln fort, Sunniten schotten sich von Schiiten ab. Je größer die religiösen Gegensätze desto gefährlicher wurde der Alltag in Bagdad – auch für die vierköpfige Familie. Als Tochter einer deutschen Mutter fürchtete sich Yasmin am meisten vor einer Entführung.
    "Wir gehen ins Bett, wir gehen schlafen und wissen nicht, ob wir am nächsten Tag aufwachen oder nicht. Jeder, der aus dem Haus ging, wusste nicht, ob er wieder nach Hause kommt oder nicht. Wenn ich zuhause bin und die Kinder gehen zur Schule, ich weiß nicht, ob ich sie wiedersehe."

    Nie hätte sie gedacht, dass sich in der irakischen Gesellschaft solch ein Hass ausbreiten könnte, sagt die 40jährige. Sieben Geschwister ihres sunnitischen Mannes seien mit Schiiten verheiratet. Jahrzehntelang hätten die verschiedenen Religionen und Konfessionen friedlich zusammengelebt, erzählt die Deutsch-Irakerin.

    "In unserer Straße waren zwei christliche Häuser und die kommen zu den Muslimen in ihrem Fest und die Muslime gehen Weihnachten und Ostern und besuchen sie in ihrem Fest. Das gibt es gar nicht, dass einer den anderen hasst oder nicht möchte oder töten möchte. Das gab es gar nicht, das hat jetzt plötzlich so angefangen. Ob Iran dahinter ist oder ob die Amerikaner dahinter sind oder die Qaida dahinter sind, das wissen wir nicht. Das kommt nicht so, da ist jemand dahinter. Jemand macht das und will, dass es weitergeht."

    Wie viele andere Flüchtlinge auch macht sie ausländische Kräfte für das Chaos im Irak verantwortlich. Ihr Kampf um Einfluss, Macht und Geld gehe auf Kosten der einheimischen Bevölkerung, so Yasmin, denn längst richte sich die Gewalt nicht mehr gegen die Besatzer, sondern gegen die eigenen Landsleute. Bester Beweis sei die Situation in Syrien, sagt die Irakerin. Denn am Stadtrand von Damaskus lebten die Iraker wieder problemlos zusammen – egal ob Sunniten, Schiiten oder Christen.

    In manchen Vororten der syrischen Hauptstadt sind die Flüchtlinge inzwischen in der Überzahl – in Seida Zeynab zum Beispiel, einem schiitisch geprägten Viertel. Auf den Straßen dominiert der irakische Dialekt, Geschäfte und Restaurants tragen irakische Ortsnamen, syrische und irakische Kinder gehen zusammen zur Schule. Auf dem betongrauen Pausenhof einer Mittelschule in Seida Zeynab spielt eine Gruppe Achtklässler Fussball. Von den insgesamt 700 Schülern stammen mehr als die Hälfte aus dem Irak und weil es nicht genügend Klassenräume gibt, findet der Unterricht in zwei Schichten statt. Das Schulklima leide darunter nicht, sagt der 14jährige Mudhafar.

    "Ich bin Syrer und Ahmad hier ist Iraker, er ist wie ein Bruder für mich. Wir machen keinen Unterschied zwischen Irakern und Syrern."

    Ahmad ist vor zwei Jahren mit seiner Familie aus Bagdad geflohen. In Damaskus fühle er sich sicher, sagt der 15jährige. Mudhafar ist sein Nachbar, Klassenkamerad und bester Freund. Seit Ausbruch des Krieges 2003 zeigen die Syrer große Solidarität mit ihren Nachbarn. Die Schulausbildung ist für die Flüchtlinge gratis, Ärzte behandeln kriegsversehrte Iraker zum halben Preis, wohlhabende Damaszener spenden Nahrungsmittel, Kleidung und Medikamente. Doch angesichts von eineinhalb Millionen Flüchtlingen bei einer Gesamtbevölkerung von 20 Millionen hat Syrien nun die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Schulen, Krankenhäuser und Behörden sind dem Ansturm nicht gewachsen, die Wohnungspreise haben sich verdoppelt, Kriminalität und Prostitution nehmen zu. All das führt zu Feindseligkeiten, die Mohammed, der Computerladen-Besitzer, bereits deutlich zu spüren bekommt.

    "Manchmal rufen mir Kinder auf der Straße hinterher: "Hey Iraker, warum haust du nicht ab!" Ich verstehe die Syrer, aber warum müssen das die Kinder mitkriegen? Lasst es doch zwischen uns Erwachsenen."

    Der zehnjährige Ali und die siebenjährige Tabarek können nicht mehr vor dem Haus spielen, erzählt Mohammeds Frau Yasmin. Denn sofort gäbe es Ärger mit den syrischen Nachbarkindern. Ihr Sohn traue sich kaum noch vor die Tür.

    "Er war mit ein paar anderen Kindern, das waren auch alles Iraker, die haben Fußball gespielt. Und dann kamen kleinere Kinder und die haben ältere Jungs gebracht und die haben sie dann verprügelt. Und sie haben sie nicht nach Hause gehen lassen. Um halb neun kam er hier an von oben bis unten voller Staub und Sand und Dreck und hat losgejault."

    Neben den gesellschaftlichen Anfeindungen plagen die Familie jetzt vor allem finanzielle Sorgen. Mit dem Computerladen verdient Mohammed einen Bruchteil dessen, was die vier Iraker in Damaskus zum Leben brauchen. Ihr Haus in Bagdad haben sie vermietet, doch die Mieter zahlen nur noch die Hälfte der ursprünglich ausgehandelten Rate. Da immer mehr Wohnraum in der irakischen Hauptstadt leer stünde, sei bald niemand mehr bereit, überhaupt noch etwas zu bezahlen, erklärt der Ingenieur. So lebt die Familie schon jetzt von ihren Ersparnissen.

    "Hier zu bleiben ist für mich unmöglich. Ich kann nicht fünf Jahre finanzieren bis es im Irak besser wird. Ich weiß nicht wie es weitergehen soll."

    Die Lage der eineinhalb Millionen Flüchtlinge in Syrien wird immer aussichtsloser. Eine Rückkehr in den von Gewalt zerrütteten Irak scheint bis auf Weiteres unmöglich, sich in Syrien eine neue Existenz aufzubauen ist angesichts der hohen Arbeitslosigkeit schwierig. Und die Hoffnung, von Damaskus aus in die USA, nach Kanada, Australien oder Europa weiterzuziehen, erweist sich als Illusion, denn kaum ein westliches Land ist bereit, Iraker aufzunehmen. So sitzen Mohammed und Yasmin jeden Abend vor dem Fernseher und verfolgen, wie ihre Heimat im Chaos versinkt. Die zweifache Mutter kämpft dabei regelmäßig mit den Tränen.

    "Ich hab das Gefühl, dass alle Leute bald sterben, dass das ganze Land stirbt, denn da ist keine Hoffnung, nicht mal ein Prozent. Die weggehen haben Glück, dass sie weg sind, sonst würden sie da getötet und das passiert mit Ingenieuren, Ärzten, Lehrern. Jeden Tag haben sie irgendeine Gruppe, die sie töten wollen. Was sie wollen, weiß keiner. Das geht einfach nicht, das ist kein Leben mehr da."