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Energiebremse für Bakterien

Medizin. - Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Tuberkulose wieder auf dem Vormarsch. Weltweit gesehen trägt jeder Dritte den Erreger der Tuberkulose in sich. Jedes Jahr sterben drei Millionen Menschen an Tuberkulose - beinahe so viele wie an AIDS. Tuberkulose gehört zu den behandelbaren Krankheiten, aber seit zehn Jahren tauchen immer häufiger Problemkeime auf, die gegen die verfügbaren Antibiotika beinahe oder vollständig unempfindlich sind. Heute wird im Fachblatt "Science" der - nach 40 Jahren - erste neue Wirkstoff gegen Tuberkulose vorgestellt.

Von Martin Winkelheide |
    Einen richtigen Namen besitzt er noch nicht. Nur eine Nummer: R207910. Und trotzdem sind seine Entdecker stolz auf ihn.

    Die Lehrbücher über Antibiotika müssen neu geschrieben werden,

    sagt der Tuberkulose-Experte Koen Andries. Er forscht in Brüssel für den Pharmakonzern "Johnson & Johnson". Seit 40 Jahren, so Andries, seien keine wirklich neuen Medikamente gegen die Tuberkulose entdeckt worden.

    R207910 ist ein neuer Wirkstoff. Er gehört in keine der vier bekannten Klassen von Antibiotika. Mir ist noch nie ein Antibiotikum begegnet, das Bakterien darin hindert, Energie aufzubauen. Und genau das macht der Wirkstoff. Er dreht den Bakterien die Energiezufuhr ab.

    Manche Antibiotika lassen Bakterien keine ordentlichen Zellwände bauen, andere stören die Herstellung von Erbmolekülen oder von wichtigen Eiweißen. R207910 dagegen verhindert, dass die Bakterien ATP bilden - die Energie, die Bakterien aber auch tierische und menschliche Zellen dringend für ihren Stoffwechsel brauchen. Andries:

    Wenn Sie die Energie-Versorgung stören, dann teilen sich die Bakterien nicht mehr. Aber das ist nicht alles: Die Bakterien sterben sogar ab.

    Warum der Wirkstoff die Bakterien abtötet, das weiß Koen Andries nicht genau. Wahrscheinlich reagieren die Tuberkulose-Bakterien auf Milieu-Schwankungen - möglicherweise macht der Stoff sie empfindlich für Säuren. R207910 ist kein natürlicher Stoff, er wurde auch nicht maßgeschneidert. Er schlummerte in der Bibliothek von "Johnson & Johnson". Andries:

    In unserer großen Chemie-Datenbank befinden sich ein paar Hunderttausend chemische Verbindungen, die bislang von keinem anderen hergestellt worden sind.

    Der Erreger der Tuberkulose besitzt eine wachsartige Hülle, er lebt im Innern von Immunzellen, und er teilt sich langsam - ist also schwer angreifbar. Im direkten Vergleich mit anderen Stoffen aus der Datenbank erwies sich R207910 als sehr wirksam - aber auch als sehr wählerisch. Es ist kein Breitband-Antibiotikum - es bringt nur den Erreger der Tuberkulose, das Mycobacterium tuberculosis um und sehr nah verwandte Bakterien. Was wie ein Nachteil klingt, könnte sich auf lange Sicht als großer Vorteil erweisen. Andries:

    In jedem Patienten gibt es ein paar Bakterien, die unempfindlich sind für einen einzelnen Wirkstoff. Um zu verhindern, dass diese Bakterien die Überhand gewinnen, müssen Patienten immer eine Kombination aus mindestens drei Antibiotika bekommen, die jeweils unterschiedlich wirken.

    Die neuartige und spezifische Wirksamkeit der Substanz macht es den Bakterien schwer, unempfindlich zu werden. Selbst Problemkeime, die bereits gegen ein Antibiotikum oder mehrere resistent sind, werden abgetötet. Und, das haben Tierversuche an Mäusen gezeigt: Die Tuberkulose heilt doppelt so schnell aus, wenn die Kombinationstherapie R207910 enthält. Menschen mit einer akuten Tuberkulose müssten nur noch drei Monate lang Tabletten schlucken - anstatt ein halbes Jahr. Bei Infektionen mit Problemkeimen würde die Behandlung maximal ein Jahr dauern und nicht mehr zwei Jahre. In ersten Test an Menschen, an gesunden Freiwilligen, führte der Wirkstoff nicht zu unerwünschten Nebenwirkungen. Aber, so räumt Koen Andries ein,...

    Das bedeutet nicht, dass der Stoff wirklich keine Nebenwirkungen hat, wenn er über längere Zeit eingenommen wird.

    Ob der neue Wirkstoff Menschen mit Tuberkulose heilen kann, muss noch in klinischen Studien wissenschaftlich bewiesen werden. Mit ersten Ergebnissen ist frühestens in einem Jahr zu rechnen.