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"Enfant" in der Deutschlandpremiere

Choreograf Boris Charmatz verwies bei seinem Stück "Enfant" ausdrücklich auf die französische Organisation "Bildung ohne Grenzen". Eine Lobby für Kinder illegaler Einwanderer, die zur Schule gehen sollten. Die Premiere seines Stücks in Deutschland fand gerade auf Kampnagel in Hamburg statt. Auf der Bühne wirkten nur zehn statt 27 Kinder mit.

Von Elisabeth Nehring | 24.08.2011
    Zu hören sind erst einmal nur die Maschinen. Das Klackern des Kran-artigen Aufbaus, der mit seinem umher schwenkenden Arm überall auf der Bühne befestigte Seile abreißt, das Rattern einer überdimensionalen Walze, die alles auf ihr Befindliche erst in die Vertikale befördert und dann wieder herunter purzeln lässt und ein bewegliches Stück Boden, dessen rhythmischen Stoßbewegungen wie Atem wirken. Diesen Maschinen ist etwas Organisches zueigen und sie haben die Menschen, so scheint es, besiegt. Schlaffe Leiber, die nahezu unsichtbar auf der Bühne liegen, werden wie Vieh gehievt, Pakete befördert oder heftig durchgeschüttelt. Der Mensch hat die Kontrolle über die Objekte verloren und ist deren Eigenleben schutzlos ausgeliefert.

    Genau dieser Eindruck von Ausgeliefertsein wiederholt sich, als die zum Leben erwachten Erwachsenen schließlich die Kinder hineintragen. Ein beeindruckendes Bild, denn diese blond gelockten, rot- oder dunkelhaarigen kleinen Wesen scheinen zu schlafen. Mit geschlossenen Augen, ohne Bewusstsein und Kraft liegen oder sitzen sie auf die Bühne - man denkt an Puppen oder Engel, aber auch - jenseits des friedlichen Bildes - an Kinderleichen. Rührend wirken diese zarten, weißhäutigen Geschöpfe in der groben Schwärze des Bühnenraums; ihre Hilflosigkeit und Verletzlichkeit evozieren Zärtlichkeit, lassen aber auch Gedanken an Misshandlungen oder Ausbeutung entstehen. Fast ein bisschen schwer auszuhalten ist der Anblick dieser Szenerie mit ihren vielfachen, ganz und gar nicht nur freundlichen Assoziationen.

    Von den Erwachsenen werden sie zu Beginn zwar behutsam behandelt, doch liegt in deren Emotions- und Bezugslosigkeit im Kern schon ein Hauch von Brutalität. Wie Marionetten bewegen die Erwachsenen Arme, Beine und Köpfe der Kinder, später schieben sie sie auf dem Boden achtlos hin und her und schleudern sie vorsichtig durch den Raum. Als lebendige, autonome Individuen werden die Kinder von den Großen nicht betrachtet, eher wie Spielzeuge, Puppen oder Versuchsobjekte.

    Im Bild des ausgelieferten Kindes liegt mehr als das sensible Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem: die Frage, wie gehen wir grundsätzlich um mit denen, die schutzbedürftiger, schwächer, hilfloser sind als wir selbst? Und da eröffnet uns 'Enfant' den Blick dafür, dass es oft nicht eine direkte Grausamkeit ist, die schmerzt, sondern die Teilnahmslosigkeit von Berührung und Kontaktaufnahme.

    Auf der Bühne schließlich breitet sich zunehmend Aktionismus und eine allgemeine Atmosphäre großer Unruhe aus: Sirenenlärm ertönt, die Tänzer geraten außer Rand und Band, rennen hektisch herum, reißen sich die Kleider vom Leib und scheinen immer mehr die Kontrolle über sich selbst zu verlieren - und noch immer bekommen die Kinder in ihrer eingefrorenen, bewußtseinsfernen Stille von alledem nichts mit. Bis plötzlich - die Szene klingt abgegriffen und ist es doch in der Bühnenrealität von 'Enfant' überhaupt nicht - ein Dudelsackspieler auftaucht und wie der Rattenfänger von Hameln die Kleinen nach und nach aufweckt.

    Von da an herrscht strukturiertes, aber regelloses Chaos auf der Bühne: rennen, strampeln, ausprobieren, was geht. Ein einziges Gleiten von der individuellen Handlung zum Verschwinden in der Masse und zurück. Die Kinder versuchen, es den Erwachsenen gleichzutun und manipulieren sie nun ihrerseits oder legen sich mit ihnen gemeinsam auf den Boden und die allseits in die Luft erhobenen strampelnden Beine erinnern an massenhaft verendende Insekten. Sie behaupten sich als eigenständige, autonome Wesen, mehr noch: wie zum Ausgleich breitet sich im zweiten Teil des Stücks ganz allgemein ein kindlicher Zugang zur Welt aus, ja übernimmt sozusagen die Inszenierung. Denn diese Kinder wirken erstaunlicherweise überhaupt nicht wie von einem Erwachsenen inszeniert oder dirigiert. Obwohl sie sich bruchlos in den Wirbel der Choreografie einfügen, scheinen sie doch keinen Moment fremdbestimmt, sondern so natürlich wie beim Spielen im Kinderladen nebenan. Und das ist, bei allen politischen Bezügen, die der Choreograf im Vorfeld ausgegeben hat, die eigentliche, ganz große Leistung von Boris Charmatz: einen Abend zu schaffen, in dem sich Hilflosigkeit in Autonomie verwandelt, Kinder als vollkommen selbstbestimmte Geschöpfe das Bühnengeschehen übernehmen und ihr Welt- und Seinsverständnis als choreografisches Prinzip die Inszenierung durchdringt.