Am 9. Oktober 1899 gingen an der Nordküste der Provinz Camagüey, vierzig Meilen westlich des Hafens von Nuevitas, der Ingenieur J. C. Kelly sowie sein Assistent N. O. Nevelle mit einem Korps von Ingenieuren und Geometern an Land. Sie waren entsandt worden von der Cuban Land and Steamship Company. Die Gruppe arbeitete mehrere Monate lang an der Parzellierung weiter Gebiete, die sie "Valley of Cubiras" nannten, und bereiteten die Gründung von "La Gloria City" vor, der ersten nordamerikanischen "Kolonie" in Cuba.
So begann ein groß angelegter Wirtschaftsbetrug am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals intervenierten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal auf der Zuckerinsel, einer Kolonie der Spanier. Mit ihrer Hilfe gelang es den Cubanern, sich endlich vom spanischen Joch zu befreien. Doch sie erreichten zunächst nur eine Unabhängigkeit von US-amerikanischen Gnaden. Denn die "Befreier" walteten auf diesem wichtigsten Teil der karibischen Inselwelt nach Gutdünken und begannen, weite Gebiete zu kolonisieren. Führend war dabei die Cuban Land and Steamship Company, eine nordamerikanische Spekulationsgesellschaft mit Sitz in New York und geführt von ausgedienten Militärs. Sie warb in den USA Siedler an, die ihr ganzes Hab und Gut in diese Spekulation steckten, verkaufte ihnen cubanisches Land und versprach ihnen goldene Berge, sozusagen "blühende Landschaften". Doch die aufstrebenden Städte wie "La Gloria City" existierten nur auf den Landkarten der "Company".
Es gab keine Städte, kein kultiviertes Land, keine Straßen oder Wege, keinen einzigen Hafen, um irgendwelche Produkte zu exportieren. La Gloria City musste erst noch geschaffen werden.
So schreibt Enrique Cirules in seinem Buch Der letzte Amerikaner. Es ist die Geschichte dieser "ersten US-Kolonie auf Cuba" und ihres letzten Überlebenden William Stokes. Ein Stück so genannter Testimonio- oder Zeugnis-Literatur, wie sie der cubanische Schriftsteller Miguel Barnet mit seinem Cimarrón berühmt gemacht hat. In diesem inzwischen sehr verbreiteten literarischen Genre hat Enrique Cirules seinen Dokumentarbericht wenige Jahre nach dem Cimarrón verfasst. Er ist 1938 in einem kleinen Küstenort jener Provinz Camagüey geboren, in der die nordamerikanischen Siedler am Anfang des Jahrhunderts gestrandet waren. Zunächst musste sich Cirules als Landarbeiter durchschlagen, bis er dann nach dem Sieg der Revolution verschiedene Funktionen im Kulturapparat ausübte und schließlich das Schreiben entdeckte. Viele seiner Erzählungen und seine beiden Romane beschäftigen sich mit La Gloria, deren Überreste er 1970, zu Beginn seiner literarischen Laufbahn, erforschte. Dabei hat er William Stokes kennen gelernt, den Zeitzeugen, der seinem Buch den Titel gab: Der letzte Amerikaner.
Wegen des Klimas beschloss Basil Stokes, mein Vater, Florida zu verlassen, nicht wegen der intensiven Werbung, die in den Vereinigten Staaten für die Kolonisierung Cubas gemacht wurde... Es war die Rede von Tausenden fruchtbarer Morgen Land, die infolge des Kriegs verlassen worden waren, und von endlosen unberührten Wäldern, die auf Menschenhand warteten, und vom geringen Preis, der für die Ländereien zu bezahlen war... Es hieß, La Gloria sei ein wunderschöner Ort inmitten der Tropen, mit sanftem Klima und immer strahlender Sonne. Das stimmte ja auch. Dass La Gloria aber auch ein bedeutender Ort mit vielen Gebäuden und Straßen, ja sogar Straßenbahnen, Restaurants und Theatern sei, davon stimmte allerdings nichts. Hier gab es nur Wildnis, Wildnis und nichts als Wildnis. Auf diese Weise betrog die 'Cuban Land’ das nordamerikanische Volk.
Jahrelang vermochte niemand, diesen Schwindel zu beenden. Die Vereinigten Staaten hatten Cuba 1898 militärisch besetzt, um die Insel von den Spaniern zu befreien. Aber starke politische Kräfte in Washington überlegten sich ernsthaft, sie der Union einzuverleiben. Die Siedlungspolitik der Cuban Land war politisch gewollt und wurde entsprechend geduldet. Außerdem besaß so mancher Washingtoner "Entscheidungsträger" Aktien der Company. Im Laufe der Jahre wurden so 37 US-amerikanische Ansiedlungen auf der ganzen Insel gegründet. Die cubanischen Regierungen, die nach der Unabhängigkeit 1902 über das Land herrschten, zeigten sich machtlos oder desinteressiert an den Zuständen in den nordamerikanischen Kolonien auf ihrem Territorium, denn Cuba blieb bis zur Revolution 1959 eine Art US-Protektorat.
Im Lauf der Zeit hatte ich Gelegenheit festzustellen, wie genau dieser alte Nordamerikaner sich an Dinge erinnern konnte, die ihm während seines Lebens widerfahren waren, und an die Zerstörung seiner Träume in der 'Kolonie’.
So schreibt Enrique Cirules im einleitenden Kapitel. Auf den folgenden 330 Seiten verdeutlicht er dann die menschlichen Folgen der ungeheuerlichen Spekulationspolitik der Cuban Land am Schicksal von zwei Generationen der Familie Stoke, die wie so viele andere daran zugrunde ging. Eineinhalb Jahre lang hat er die Details zu seinem Dokumentarbericht in La Gloria erforscht.
Ich habe dann das Buch mit derselben Vorsicht und Wut geschrieben, mit der mir der Alte die Geschichten zum ersten Mal erzählt hatte, mit derselben Naivität und Ironie, der Angst, den Träumen, den Vorahnungen, dem Mysterium und jenem Groll, den er manchmal hegte.
Aber Cirules ergänzt die Berichte William Stokes durch Informationen, die er von Nachkommen der Siedler erhielt oder die aus Dokumenten und Büchern stammen, die in den USA oder in Cuba über das Thema der US-amerikanischen Siedlungs-politik veröffentlicht wurden. Dem Autor gelingt es, in das persönliche Schicksal seines Zeitzeugen die Machenschaften dieser US-Aktiengesellschaft, genannt Cuban Land and Steamship Company, zu verweben. Er schildert sie als einen Kraken, der mit seinen Fangarmen das Leben jedes Einzelnen, der ganzen Siedlung, des umliegenden Gebiets bis hin zum nächstliegenden Hafen umfasste, Produktion, Verkauf und den möglichen Export kontrollierte und sogar die Informationen steuerte, die aus den USA nach La Gloria gelangten oder von dort ausgingen. Um von sich abzulenken oder Gesetze zu umgehen, die es wohl selbst für US-amerikanische Gesellschaften damals in Cuba gab, bildete die Company Subunternehmen oder kaufte verwandte Aktiengesellschaften auf.
Der Leser sollte sich von dem Umstand, dass das geschilderte weit zurückliegt, nicht von der Lektüre abhalten lassen, ebensowenig von einer gewissen Redundanz. Das Buch mag kein literarisches Schmuckstück sein, genauso wenig wie seine Übersetzung, aber es ist ein Gewinn an Erkenntnis, denn die Ursachen für das Schicksal dieses Letzten Amerikaners auf Cuba ruinieren Menschen und Gesellschaften heute überall in weit größerem Umfang als damals.
Peter B. Schumann besprach: Der letzte Amerikaner von Enrique Cirules erschienen im Rotpunktverlag. Es hat 348 Seiten und kostet 19,50 Euro.
So begann ein groß angelegter Wirtschaftsbetrug am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals intervenierten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal auf der Zuckerinsel, einer Kolonie der Spanier. Mit ihrer Hilfe gelang es den Cubanern, sich endlich vom spanischen Joch zu befreien. Doch sie erreichten zunächst nur eine Unabhängigkeit von US-amerikanischen Gnaden. Denn die "Befreier" walteten auf diesem wichtigsten Teil der karibischen Inselwelt nach Gutdünken und begannen, weite Gebiete zu kolonisieren. Führend war dabei die Cuban Land and Steamship Company, eine nordamerikanische Spekulationsgesellschaft mit Sitz in New York und geführt von ausgedienten Militärs. Sie warb in den USA Siedler an, die ihr ganzes Hab und Gut in diese Spekulation steckten, verkaufte ihnen cubanisches Land und versprach ihnen goldene Berge, sozusagen "blühende Landschaften". Doch die aufstrebenden Städte wie "La Gloria City" existierten nur auf den Landkarten der "Company".
Es gab keine Städte, kein kultiviertes Land, keine Straßen oder Wege, keinen einzigen Hafen, um irgendwelche Produkte zu exportieren. La Gloria City musste erst noch geschaffen werden.
So schreibt Enrique Cirules in seinem Buch Der letzte Amerikaner. Es ist die Geschichte dieser "ersten US-Kolonie auf Cuba" und ihres letzten Überlebenden William Stokes. Ein Stück so genannter Testimonio- oder Zeugnis-Literatur, wie sie der cubanische Schriftsteller Miguel Barnet mit seinem Cimarrón berühmt gemacht hat. In diesem inzwischen sehr verbreiteten literarischen Genre hat Enrique Cirules seinen Dokumentarbericht wenige Jahre nach dem Cimarrón verfasst. Er ist 1938 in einem kleinen Küstenort jener Provinz Camagüey geboren, in der die nordamerikanischen Siedler am Anfang des Jahrhunderts gestrandet waren. Zunächst musste sich Cirules als Landarbeiter durchschlagen, bis er dann nach dem Sieg der Revolution verschiedene Funktionen im Kulturapparat ausübte und schließlich das Schreiben entdeckte. Viele seiner Erzählungen und seine beiden Romane beschäftigen sich mit La Gloria, deren Überreste er 1970, zu Beginn seiner literarischen Laufbahn, erforschte. Dabei hat er William Stokes kennen gelernt, den Zeitzeugen, der seinem Buch den Titel gab: Der letzte Amerikaner.
Wegen des Klimas beschloss Basil Stokes, mein Vater, Florida zu verlassen, nicht wegen der intensiven Werbung, die in den Vereinigten Staaten für die Kolonisierung Cubas gemacht wurde... Es war die Rede von Tausenden fruchtbarer Morgen Land, die infolge des Kriegs verlassen worden waren, und von endlosen unberührten Wäldern, die auf Menschenhand warteten, und vom geringen Preis, der für die Ländereien zu bezahlen war... Es hieß, La Gloria sei ein wunderschöner Ort inmitten der Tropen, mit sanftem Klima und immer strahlender Sonne. Das stimmte ja auch. Dass La Gloria aber auch ein bedeutender Ort mit vielen Gebäuden und Straßen, ja sogar Straßenbahnen, Restaurants und Theatern sei, davon stimmte allerdings nichts. Hier gab es nur Wildnis, Wildnis und nichts als Wildnis. Auf diese Weise betrog die 'Cuban Land’ das nordamerikanische Volk.
Jahrelang vermochte niemand, diesen Schwindel zu beenden. Die Vereinigten Staaten hatten Cuba 1898 militärisch besetzt, um die Insel von den Spaniern zu befreien. Aber starke politische Kräfte in Washington überlegten sich ernsthaft, sie der Union einzuverleiben. Die Siedlungspolitik der Cuban Land war politisch gewollt und wurde entsprechend geduldet. Außerdem besaß so mancher Washingtoner "Entscheidungsträger" Aktien der Company. Im Laufe der Jahre wurden so 37 US-amerikanische Ansiedlungen auf der ganzen Insel gegründet. Die cubanischen Regierungen, die nach der Unabhängigkeit 1902 über das Land herrschten, zeigten sich machtlos oder desinteressiert an den Zuständen in den nordamerikanischen Kolonien auf ihrem Territorium, denn Cuba blieb bis zur Revolution 1959 eine Art US-Protektorat.
Im Lauf der Zeit hatte ich Gelegenheit festzustellen, wie genau dieser alte Nordamerikaner sich an Dinge erinnern konnte, die ihm während seines Lebens widerfahren waren, und an die Zerstörung seiner Träume in der 'Kolonie’.
So schreibt Enrique Cirules im einleitenden Kapitel. Auf den folgenden 330 Seiten verdeutlicht er dann die menschlichen Folgen der ungeheuerlichen Spekulationspolitik der Cuban Land am Schicksal von zwei Generationen der Familie Stoke, die wie so viele andere daran zugrunde ging. Eineinhalb Jahre lang hat er die Details zu seinem Dokumentarbericht in La Gloria erforscht.
Ich habe dann das Buch mit derselben Vorsicht und Wut geschrieben, mit der mir der Alte die Geschichten zum ersten Mal erzählt hatte, mit derselben Naivität und Ironie, der Angst, den Träumen, den Vorahnungen, dem Mysterium und jenem Groll, den er manchmal hegte.
Aber Cirules ergänzt die Berichte William Stokes durch Informationen, die er von Nachkommen der Siedler erhielt oder die aus Dokumenten und Büchern stammen, die in den USA oder in Cuba über das Thema der US-amerikanischen Siedlungs-politik veröffentlicht wurden. Dem Autor gelingt es, in das persönliche Schicksal seines Zeitzeugen die Machenschaften dieser US-Aktiengesellschaft, genannt Cuban Land and Steamship Company, zu verweben. Er schildert sie als einen Kraken, der mit seinen Fangarmen das Leben jedes Einzelnen, der ganzen Siedlung, des umliegenden Gebiets bis hin zum nächstliegenden Hafen umfasste, Produktion, Verkauf und den möglichen Export kontrollierte und sogar die Informationen steuerte, die aus den USA nach La Gloria gelangten oder von dort ausgingen. Um von sich abzulenken oder Gesetze zu umgehen, die es wohl selbst für US-amerikanische Gesellschaften damals in Cuba gab, bildete die Company Subunternehmen oder kaufte verwandte Aktiengesellschaften auf.
Der Leser sollte sich von dem Umstand, dass das geschilderte weit zurückliegt, nicht von der Lektüre abhalten lassen, ebensowenig von einer gewissen Redundanz. Das Buch mag kein literarisches Schmuckstück sein, genauso wenig wie seine Übersetzung, aber es ist ein Gewinn an Erkenntnis, denn die Ursachen für das Schicksal dieses Letzten Amerikaners auf Cuba ruinieren Menschen und Gesellschaften heute überall in weit größerem Umfang als damals.
Peter B. Schumann besprach: Der letzte Amerikaner von Enrique Cirules erschienen im Rotpunktverlag. Es hat 348 Seiten und kostet 19,50 Euro.