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Entdecker der scheuen Blitze

Auszeichnungen. – Die Verleihung der diesjährigen Nobelpreise ging heute in ihre zweite Runde: In der Disziplin Physik entfielen die Auszeichnungen heute auf den Japaner Masatoshi Koshiba sowie die beiden US-Amerikaner Raymond Davis Jr. und Riccardo Giacconi. Während Koshiba und Davis für ihre Arbeiten zu Elementarteilchen, den so genannten Neutrinos, geehrt werden, erhält Riccardo Giacconi die zweite Hälfte des Physikpreises für seine Entdeckungen auf dem Sektor der Röntgenastronomie.

    Für viele Experten war es heute keine Überraschung, dass nicht - wie so oft – unerwartete Außenseiter, sondern quasi gesetzte Favoriten das Rennen um den begehrten Physiknobelpreis gewannen. Die Berücksichtung der Entdeckungen zu geisterhaften Elementarteilchen, den so genannten Neutrinos, wurde in Fachkreisen eigentlich als überfällig angesehen. So musste sich der bereits 87 jährige Raymond Davis, von Hause aus Chemiker, denn auch lange gedulden, bis seine Leistungen mit der höchsten Auszeichnung der Wissenschaft gewürdigt wurden. Der emeritierte und heute auf Long Island bei New York lebende Forscher gilt als ausgesprochener Pionier seines Faches, der mit erstaunlichem Improvisationsvermögen seine Forschungen auch gegen ständige Finanzknappheit durchsetzte und verfolgte. Über ein halbes Jahrhundert lang blieb der "Bastler" unter den Experimentalphysikern seiner Wirkstätte, dem Brookhaven National Laboratory treu. "Raymond Davis ist einer der ungewöhnlichsten Naturwissenschaftler, die man sich vorstellen kann. Er ist ein sehr warmherziger Mensch, der immer bereit war, bei einem Experiment zu helfen und der sich stets freut, über Physik und Chemie zu reden. Er besitzt überdies eine außergewöhnlich starke Intuition für die Naturwissenschaft", meint Kenneth Landey von der Pennsylvania State University und früherer Mitarbeiter Davis.

    Während Raymond Davis als bodenständiger Tüftler sein Leben lang dem einen Institut verhaftet blieb, zog es seinen Gegenstück immer wieder in die Welt hinaus: Der 76jährige Masatoshi Koshiba gilt unter Kollegen als "Macher" mit ausgezeichneten organisatorischen und kommunikativen Fähigkeiten. Nicht zuletzt auch für von ihm angestoßene Kooperationsprojekte dürfte der Japaner seinen Anteil an dem diesjährigen Nobelpreis für Physik erhalten haben. So absolvierte der umtriebige Wissenschaftler lange Aufenthalte in den USA sowie am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg. Masatoshi Koshiba, dem ein herzlicher Humor und eine große Vorliebe für klassische Musik, vor allem Bach, nachgesagt wird, gilt auch als Mitbegründer des japanischen Neutrino-Detektors "Super-Kamiokande", in dem er schließlich auch als erster die sagenhaften Geisterteilchen beobachtete. Mit Deutschland knüpfte der japanische Physiker besonders enge Bande: So erhielt Koshiba den Humboldt-Forschungspreis und hatte so die Möglichkeit, in den späten 90er Jahren an verschiedenen renommierten Instituten hierzulande zu forschen. Überdies wurde Masatoshi Koshiba 1985 für seine Verdienste um die deutsch-japanische Zusammenarbeit das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.

    Beiden Forschern gemein ist ein bestimmtes Objekt ihrer Begierde: das Neutrino ist das leichteste aller Elementarteilchen. Bereits zweimal wurden Nobelpreise zu Entdeckungen im Zusammenhang mit den Objekten, derer die Forscher nur mit beträchtlichem Aufwand habhaft werden konnten. So wurde 1945 die Vorhersage von Neutrinos und 1995 schließlich der Nachweis der "Geisterteilchen" belohnt. Der deutsche Physiker Pauli schuf die mysteriösen Teilchen quasi aus dem Dunst theoretischer Überlegungen heraus. Bestimmte Typen von Kernzerfällen machte die Postulierung der zunächst für masselos gehaltenen Teilchen notwendig. Doch ob Neutrinos wirklich existierten, blieb noch Jahrzehnte lang unklar. In den 60er Jahren gelang es schließlich, experimentell zweifelsfrei zu beweisen, dass die Elementarpartikel keine reine Gedankenschöpfung waren.

    Dabei sind die Gespenster der Kernphysik durchaus keine Seltenheit, sondern durchdringen in großen Mengen ständig das Universum sowie jeden einzelnen von uns. Ihre Quelle sind die Sonnen. Weil Neutrinos aber kaum mit anderer Materie in Wechselwirkung treten, hinterlassen sie auch keine Spuren. Neutrinos sind auch für Elementarteilchen winzig, tragen keine Ladung und besitzen, wie Forscher erst spät entdeckten, tatsächlich nur einen Hauch von Masse. Dennoch spielt ihr Federgewicht eine entscheidende Bedeutung für die Entstehung und die Struktur des Kosmos. Genau zu dieser Erkenntnis legten Raymond Davis und Masatoshi Koshiba mit ihren Arbeiten das Fundament.

    In einer alten Goldmine in Süd-Dakota baute Raymond Davis in den 60er und 70er Jahren einen ersten Detektor, in dem er aus den Kernverschmelzungsprozessen unserer Sonne geborene Neutrinos einfing. Der US-Physiker kam auf die Idee, dass damit – ähnlich wie mit Lichtstrahlen – Fotos vom Inneren des Sterns erzeugt werden könnten, da ja Neutrinos nicht von den höheren Schichten der Sonne aufgehalten werden. Masatoshi Koshiba dagegen sprang das Glück bei seinen Experimenten zur Seite: "Ursprünglich war das Kamiokande-Projekt dafür vorgesehen, den Zerfall von Wasserstoffkernen zu messen." Doch nach drei Monaten kam Koshiba auf die Idee, mit dem gewaltigen Wassertank auf die Jagd nach etwas ganz anderem zu gehen – solaren Neutrinos. Dann aber, 1987, geschah etwas Unerwartetes: In einer Nachbargalaxie, der Großen Magellanschen Wolke ereignete sich eine gewaltige Sternenexplosion. Es gelang dem Physiker und seinem Team, von dieser Supernova einige weit gereiste Neutrinos mit "Kamiokande" dingfest zu machen. Die Idee der Anlage: In einem rund 40 mal 40 Meter großen Wasserbecken, das zum Schutz vor Störeinflüssen tief in einen Berg eingegraben liegt, warten Photosensoren auf Lichtblitze, die bei der seltenen Kollision eines Neutrinos mit einem Atomkern entstehen.

    Doch die Experimente gaben den Forschern auch Rätsel auf, den beide Teams maßen weniger solare Neutrinos als vorhergesagt. Weitere Arbeiten konnten dann belegen, dass tatsächlich drei verschiedene Formen von Neutrinos existieren, die sich auf ihrer Reise von der Sonne zur Erde ineinander umwandeln können. Weil aber nur bestimmte Formen dieser Teilchen nachgewiesen werden können, erklärt sich der Unterschied zwischen Theorie und Messergebnissen.

    [Quelle: Judith Hartl, Frank Grotelüschen, Ralf Krauter]