Montag, 06. Mai 2024

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Enthauptung des Reichstagsgebäudes

Von außen gesehen hatte sie den Charme einer preußischen Pickelhaube. Im Innern des Reichstages sorgte sie dafür, dass die Parlamentarier "erleuchtet" wurden. Konstruiert aus Eisen, Kupfer und Glas überwölbte die Kuppel den Plenarsaal des Reichstages und ließ durch eine gläserne Zwischendecke hindurch einen Abglanz des Tageslichts auf die Abgeordneten fallen. Nicht ganz 40 Jahre lang, von 1894 bis 1933, debattierten unter der Kuppel die Vertreter der verschiedenen Parteien.

Von Winfried Sträter | 22.11.2004
    1954 gehörten diese Zeiten längst der Vergangenheit an. Im alten Reichstag saß kein Abgeordneter mehr. Die frei gewählten Parlamentarier der westdeutschen Republik tagten im fernen Bonn am Rhein. Vom Reichstag war eine Ruine geblieben. Sollte das ganze Gebäude abgerissen werden? Die Hoffnung auf eine deutsche Wiedervereinigung war noch lebendig, so entschieden sich die Bundestagsabgeordneten in Bonn für die kleine Lösung: die Reichstagsruine sollte stehen bleiben, die Kuppel allerdings, deren Gewicht für den gesamten Bau gefährlich wurde, gesprengt werden. Im Oktober 1954 zündete der Sprengmeister den Sprengsatz - live dabei ein Reporter des West-Berliner Rundfunksenders RIAS:

    Hell auf glüht die Termitladung, und mit einem schwefligen gelben Strahl zieht die verbrannte Luft ab, stärker wird das zischende Geräusch, noch steht die Kuppel, man sieht ihr nichts an, sie beginnt noch nicht zu wanken. Zwei, drei Ladungen sind schon abgebrannt, und nur uns gegenüber, an der Seite der Diplomatenauffahrt, brennt noch eine riesige Ladung ab. Sie ist die letzte. Aber von einem Einsturz der Reichstagskuppel auch im oberen Teil, im oberen Kreis, ist nichts zu sehen.

    Der erste Versuch: ein Fehlschlag. Die Kuppel saß noch überraschend fest auf dem Reichstag. Am 27. Februar 1933 hatte der Plenarsaal gebrannt. Die Bilder, die um die Welt gingen, zeigten die im Feuerschein glühende Reichstagskuppel. Die Nationalsozialisten nutzten die Gelegenheit, um mit der Zerschlagung der Weimarer Republik zu beginnen. Den schwer beschädigten Reichstag reparierten sie nur notdürftig. Das parlamentarische Leben war ohnehin erloschen. In den ehemaligen Plenarsaal zog eine Agitationsausstellung der Nazis ein. Im Krieg wurde der Bau Sitz einer Luftwaffenleitstelle. Als die Rote Armee Berlin eroberte, geriet der Reichstag im April 1945 noch einmal unter schweren Beschuss. Nach wenigen Tagen war das Gebäude weitgehend zerstört. Am 30. April, dem Tag, an dem Hitler Selbstmord beging, hissten Soldaten der Roten Armee eine rote Fahne auf einem der Ecktürme. Anfang der 50er Jahre begannen die Aufräumarbeiten. Zigtausend Kubikmeter Schutt wurden beseitigt. Um das Gemäuer nicht zu gefährden und eine spätere Restauration zu ermöglichen, musste die Kuppel gesprengt werden. Nachdem im Oktober 1954 der erste Versuch gescheitert war, unternahm Sprengmeister Bölk am 22. November 1954 den zweiten Versuch. Erneut dabei: ein RIAS-Reporter.

    Die ersten Termitladungen beginnen bereits abzubrennen. In einer Entfernung von etwa 300 Metern stehen wir vor dem wuchtigen Reichstagsgebäude und oben in der Kuppel glüht jetzt bereits die vierte Termitladung auf. Wieder entwickelt sich der gelbe schweflige Qualm und zieht ab in Richtung Osten. - Krach der einstürzenden Kuppel - da bricht die Kuppel ein!

    Nach wenigen Sekunden stürzte sie in die Tiefe.

    Übrig geblieben ist nur ein grauer gelber Rauchschwaden, der jetzt noch über dem enthaupteten Reichstagsgebäude steht.

    In den 60er Jahren wurde der Reichstag ohne Kuppel wiederhergestellt. "Fragen an die deutsche Geschichte" hieß eine Ausstellung, die dort seit 1971 gezeigt wurde - zu einer Zeit, als immer weniger Deutsche sich noch vorstellen konnten, dass jemals wieder ein gesamtdeutsches Parlament in diesem Gebäude tagen würde. Und das unter einer neuen Kuppel, die Besuchermassen anzieht.