Donnerstag, 18. April 2024

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Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals

In den Redaktionsstuben herrscht gähnende Langeweile. Zeit, sich aufzuregen, heißt es von oben, und die Agenturmeldungen werden auf Indizien durchgekämmt: Außereheliche Liebschaften von Politikern? Fehlanzeige. Nicht deklarierte Chemikalien im Frühstücksei? Schon besser, aber möglicherweise regional begrenzt. Was also tun? Da kommt der Volontär angehastet und hält mit empörter Miene ein quietschgelbes Taschenbuch in die Höhe. "Skandal!" ruft er. "Betrug am Leser, Etikettenschwindel, Verfall der guten Sitten!" Was ist passiert? "Resteverwertung", japst der Volontär, "olle Kamellen, unzureichend überarbeitet und obendrein als Originalausgabe tituliert. Wenn eine Million Leser 9 Euro dafür bezahlen, erschwindelt sich der Verlag 9 Millionen Euro. Ich klage an! Wir müssen handeln!" Der Chefredakteur nimmt diesen jungen Zola beiseite und erklärt, warum Skandale erst ab 10 Millionen Euro beginnen.

Florian Felix Weyh | 10.09.2002
    Karl Otto Hondrich ist ein ehrenwerter Mann. Der Frankfurter Soziologe steht über den Niederungen des politischen Alltags und schafft bisweilen das Kunststück, mit ein und demselben Text in der linken "Taz" und der rechten "Welt" vertreten zu sein. Seine Aufsätze zum Zeitgeschehen enthalten luzide Analysen und zitatreife Formulierungen, sind aber - Risiko aller Soziologie - vom steten Wandel in der Gesellschaft bedroht. Was 1984 im "Spiegel" stand, schreit nicht unbedingt nach eine Exhumierung im Jahre 2002, auch wenn es sich mit einem unvermindert brisanten Thema befaßt: dem politischen Skandal. Ja, im öffentlichen Gedächtnis beginnt die Politskandal-Ära mit Friedrich Karl Flick, aber das ist eine willkürliche Setzung. Daß niemand mehr von Franz-Josef Straußens Starfightern oder von der Neuen-Heimat-Pleite spricht, liegt schlicht an der Sterblichkeit von Tätern und Zeitzeugen. Wenn Hondrichs "Phänomenologie des politischen Skandals" 1984 einsetzt, hat das mehr persönliche als strukturelle Ursachen. Besser waren die Verhältnisse davor keineswegs, und alles, was Hondrich über Genese, Verlauf und Wirkung von Skandalen sagt, gilt seit Bestehen der Bundesrepublik.

    Doch was sagt Hondrich? Wie viele der 166 Seiten des quietschgelben Suhrkampbandes sind der Aufklärung und nicht der Aufzählung gewidmet? Nur knapp ein Fünftel, nämlich die aktuelle, frisch-intelligente Einleitung, sowie ein profunder, aber bereits mehrfach publizierter Vortrag von 1988 über "Skandalmärkte und Skandalkultur". Alle weiteren Beiträge des Buches - über Tschernobyl, den Kälbermastskandal, die korrupten DDR-Eliten (ach, wen kümmert all dies noch?) -, fügen den beiden grundsätzlichen Texten nichts hinzu. Im Gegenteil, sie dokumentieren, wie sich der Autor - sein gutes Recht, aber schlechter Stil - ausgiebig bei sich selbst bedient. Kern der Phänomenologie ist ein Satz Émile Durkheims, daß Gesellschaften Moral nur in Konfrontation mit Unmoral erlernen. Skandale lösen Scheideprozesse aus, bei denen sich eine Zivilisation evolutionär an veränderte Bedingungen anpaßt. Sie sind per se nicht aus der Welt zu schaffen, sondern nützliche kollektive Fieberschübe. In diesem Sinne gilt auch Hondrichs Aperçu: "Nichts ist den guten Sitten zuträglicher als der Skandal, vorausgesetzt, er vollendet sich." Dann nämlich, nach kathartischer Reinigung und Festlegung neuer Grenzen, hat die Gesellschaft Gewißheit erlangt, was sie noch tolerieren mag - und was nicht mehr.

    Auch das Verlagswesen kennt seine guten Sitten. Wo Schludrigkeit aufhört und Dreistigkeit anfängt, läßt sich indes nur schwer bestimmen. Ist es an sich nicht illegitim, alte Aufsätze hintereinander zu reihen, gebiert die durchgängig unveränderte Präsenz-Form der Texte manch wunderliches Leseerlebnis. Wo Hondrich - durchaus einleuchtend - im Zusammenhang mit dem CDU-Parteispendenskandal den Kopf von Roland Koch fordert, wirkt die Textfassung aus dem Jahr 2000 heute schon satirisch. Längst haben die politischen Überlebensstrategien der CDU diese Forderung - so gut sie auch begründet war - ad absurdum geführt. Gewiß, niemand schreibt gerne seine Texte um - aber dann sollte er vielleicht auf die eine oder andere Buchveröffentlichung verzichten. Denn Resteverwertung allein gebiert keine Nachhaltigkeit; das wäre ein falscher Analogieschluß aus den Ökoskandalen der Vergangenheit.