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Entmoralisierung der Geschlechterfrage
Transsexualität in Theologie und Kirche

Transsexualität galt jahrhundertelang als psychische Störung. Man glaubte, das Geschlecht werde allein durch die äußeren Geschlechtsmerkmale festgelegt. Heute gilt in der neueren Neuro-Wissenschaft vor allem das Gehirn als Basis des eigenen Geschlechtsbewusstseins. Aber wie weit ist die Kirche beim Umgang mit Transsexuellen in den eigenen Gemeinden?

Von Thomas Klatt |
    Aufkleber mit Venus- und Marssymbol als Zeichen für Frauen und Männer
    Aus der Neurowissenschaft ist bekannt, dass das eigene Geschlecht weniger von den äußeren Merkmalen als vielmehr vom eigenen Denken und Fühlen bestimmt wird. (picture alliance / dpa / Jan Woitas)
    In der Theologie ist Transsexualität bislang kaum ein Thema, sagt der evangelische Systematiker Gerhard Schreiber an der Frankfurter Goethe-Universität. Ihm ist aufgefallen, "dass es schlicht nichts gibt seitens Theologie und Kirche: keine Stellungnahmen, keine theologischen Expertisen zum Umgang mit transsexuellen Menschen als Teil der Gesellschaft. Und auch nicht als Teil der kirchlichen Gemeinschaft. Das ist ein bedauerliches Desiderat."
    Das wichtigste Sexualorgan ist das Gehirn
    Die Neurowissenschaft ist längst weiter. Das eigene Geschlecht wird demnach weniger von den äußeren Merkmalen als vielmehr vom eigenen Denken und Fühlen bestimmt. Hormonelle Einflüsse schon während der Embryonalentwicklung können entscheidend sein. Das wichtigste Sexualorgan, das Gehirn, sitzt also zwischen den Ohren. Es kann also sein, dass Babys etwa mit einem Penis geboren werden, die Gehirnstrukturen aber eher weiblich sind und bleiben. Eine Laune der Natur also, oder wie Gerhard Schreiber auch sagen kann, Teil der göttlichen Schöpfung.
    "Gott hat den Menschen wesentlich variantenreicher geschaffen als das, was wir in dem klassisch binären Schema als den Mann oder die Frau bezeichnen. Und damit ist der Schöpfungsbericht nicht falsch. Aber er ist Ausdruck des Wissens von damals. Nur es ist eben was dagegen zu sagen, wenn man auf Grund dieses biblischen Wissens von damals Forderungen macht für die gegenwärtige Lebenswirklichkeit. Mann und Frau als Teile einer ehelichen Lebensgemeinschaft - das ist dadurch nicht in Frage gestellt. Aber es gibt eben auch andere Menschen unter dem wunderbaren Regenbogen Gottes."
    Zum Beispiel Pfarrerin Dorothea Zwölfer aus der bayrischen Landeskirche. Über 40 Jahre lang hieß sie Andreas, bis ihr vor fünf Jahren klar wurde, dass sie eine Frau ist. Immer schon hatte sie sich etwa für feministische Theologie interessiert und Affinität zu Frauenthemen gehabt. Dann aber kam das letzte Puzzleteil dazu, wie sie sagt, um sich über die eigene Identität klar zu werden.
    "Aber da war das eben 2011 der Punkt im Fasching, dass mich ein paar junge Damen, damals war ich Gemeindepfarrer in Ansbach in der Pfarrei tätig, damals wurde ich gefragt: Herr Zwölfer, dürfen wir sie schminken. Okay, Spaß halt, Fasching, Mordsgaudi erst mal. Dann bin ich ins Pfarrhaus rüber. Ich kannte mich damit gar nicht aus, und dann bin ich zu meiner Frau, und die hatte Besuch, und ich hatte Probleme, das wieder runter zu bekommen. Das waren wohl so wasserfeste Sachen. Ich wusste gar nicht, wie man sich abschminkt, und dann hab ich mich abgeschminkt - und dann war sie weg. Dann hab ich das Heulen angefangen. Ganz massiv eine Traurigkeit. Was ist denn jetzt los?"
    Outing gegenüber der eigenen Ehefrau
    Schlagartig wurde dem damaligen Pfarrer klar, dass er sich immer schon wie eine Frau gefühlt hatte. Dann begann das Outing. Zuerst gegenüber der eigenen Ehefrau Claudia, die auch als Pfarrerin arbeitet. Doch es kam nicht zur Scheidung. Im Gegenteil: Es hat die Ehe gefestigt, erinnert sich Claudia Zwölfer, die sich nicht schockiert abwandte.
    "Geholfen hat mir, dass ich Dorothea eben schon so lange kenne und dass das, was mir wichtig ist in der Ehe, dass diese drei Grundfesten, die wir haben, dass die sich erhalten haben, dass wir wahrhaftig miteinander umgehen, dass wir die gleiche Glaubensbasis haben und dass wir einander treu sind – und das ist ja etwas, was geschlechtsunabhängig ist. Geholfen hat mir auch, dass ich wahrhaftig sein durfte, dass ich meine Gefühle nicht verstecken musste gegenüber Dorothea, dass ich mit meinem ganzen Geschockt-Sein, mit meiner ganzen Wut dann auch, mit meinen ganzen Fragen – war das denn vorher alles nur getürkt, hast du mir da 25 Jahre lang was vorgemacht – dass ich da ganz ehrlich sein konnte. Ja, ich habe dann anderthalb Jahre lang überlegt, was mach ich? Was halt ich aus? Was sind die Grenzen? Als ich dann entdeckt habe, dass die drei Säulen meiner Ehe, dass die bleiben, dass es letztlich immer noch derselbe Mensch ist, den ich geheiratet und lieb gewonnen habe, da hab ich dann die Herausforderung gesehen und angenommen, was habe ich für eine neue Rolle."
    Eben auch die neue Rolle als Partnerin im Kampf für die Rechte von Transsexuellen. Auch in Theologie und Kirchen. Gemeinsam halten sie Vorträge oder leiten Workshops zum Thema. Denn immer noch werden Transsexuelle privat ausgegrenzt und beruflich benachteiligt. Schätzungsweise 130.000 Trans-Männer und -Frauen leben in Deutschland. Die meisten von ihnen tun das allerdings immer noch heimlich, allein schon, weil die offizielle Anerkennung einem Spießrutenlauf gleich kommen kann, sagt Dorothea Zwölfer.
    Bayrische Landeskirche akzeptierte die Konversion
    "Ja, es ist so: Wenn man in Deutschland einen neuen Personalausweis haben will, wenn man künftig als Frau lebt – auch äußerlich, bei der Bank sich ausweisen will mit einer neuen EC-Karte, dann muss man ein bestimmtes Verfahren einhalten, was im so genannten Transsexuellen-Gesetz vorgeschrieben ist. Dass man zwei Gutachten vorweisen muss, die man auch selber bezahlen muss, sau teuer, die man aus eigener Tasche zahlen muss, um zu beweisen, dass der Zwang, im anderen Geschlecht leben zu müssen, anhält und dauerhaft ist. Dass es eben keine Sektlaune ist, sondern dass man sich damit wirklich rumquält. Und das Problem ist eigentlich: Woher will ein Gutachter das von außen wissen?"
    Dorothea Zwölfers Ausweise und Dokumente wurden geändert. Aus Andreas ist nun auch offiziell Dorothea geworden. Und ihre bayrische Landeskirche akzeptierte die Konversion. Weiterhin darf sie als Pfarrerin arbeiten. Und die allermeisten Gemeindeglieder hätten mit ihrer Trans-Identität kein Problem. Hauptsache ist, sie halte gelungene Predigten und leiste gute Arbeit. Und dazu zählt für Dorothea Zwölfer eben auch, anderen Transsexuellen zu helfen.
    "Ich habe eine Umfrage unter transsexuellen Menschen gemacht: Was ist die Hauptforderung, die ihr an Kirche habt? Und an erster Stelle kam: Beratung im Bereich Coming out, weil viele eben wahnsinnig Angst haben und oft auch Probleme haben, wenn sie sich geoutet haben. Es spricht sich herum, aha, da hat jemand seine Eltern verloren, weil die nichts mehr mit ihrem Kind zu tun haben wollen. Das ist dramatisch, das macht so eine abgrundtiefe Verzweiflung. Da muss Kirche präsent sein und wissen, was Transsexualität ist. Das heißt: Es ist erst mal eine Bildungssache der Kolleginnen und Kollegen und derjenigen, die in der Seelsorge tätig sind. Nicht versuchen, die Leute umzupolen, wie es zum Teil bei manchen radikalen Evangelikalen noch der Fall ist, sondern - okay, man muss es theologisch wie auch neurowissenschaftlich anschauen."
    Diskussion um Transsexualität - Thema für Synoden?
    Das sieht so ähnlich auch der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Volker Jung. Er will eine Entmoralisierung der Geschlechterfrage. Für sexuelle Prägungen, ob hetero-, homo-, bi- oder eben transsexuell gelte, dass sie gewissermaßen "empfangen" seien. Die Diskussion um die Segnung homosexueller Paare hat in der evangelischen Kirche Jahrzehnte beansprucht. Kirchenpräsident Jung hofft, dass dies nun beim Thema Transsexualität schneller gehen kann.
    "Ich denke, dass es keinen 20- bis 30jährigen Diskussionsprozess zum Thema Transsexualität braucht, weil wir in der Auseinandersetzung zum Thema Homosexualität wirklich auch gelernt haben, Sexualität auch noch einmal anders zu verstehen und zu betrachten. Werden wir transsexuellen Menschen in unserer kirchlichen Praxis gerecht? Also so eine schlichte und ergreifende Frage, was ist mit einem Jugendlichen, der als Mädchen getauft wurde und mittlerweile bis zur Konfirmation ein Junge geworden ist. Wie wird dieser Mensch behandelt? Wie wird der Name aufgenommen?"
    Darüber müsse in den nächsten Jahren auf den Synoden entschieden werden. Dankbar ist der Kirchenpräsident dafür, dass vor allem von der evangelischen Jugend Druck gemacht werde, endlich auch transsexuelle Menschen in die kirchlichen Reihen mit aufzunehmen.
    "Die Wahrnehmung sexueller Vielfalt bedeutet nicht Beliebigkeit, bedeutet nicht ein 'anything goes', sondern es geht erst mal darum, Menschen in ihren sexuellen Grundprägungen wahrzunehmen. Natürlich gilt für alle Menschen der Auftrag, dass Sexualität verantwortlich zu leben ist. Dazu braucht es verlässliche und verbindliche Formen – und das bedeutet nicht die Aufgabe von Familie und der damit verbundenen Werte, nämlich das Sorgen füreinander."
    Die Anerkennung homosexueller wie jetzt auch transsexueller Lebensformen und Lebenswirklichkeiten bedeute nicht, dass dadurch die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie in der Kirche weniger wichtig wäre.