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Entmythologisierung eines Präsidenten

Wohl kein französischer Präsident hat Deutschland besser gekannt als Francois Mitterand - zumal auch der Prozess der Wiedervereinigung in seine Amtszeit fiel. War er ein Freund Deutschlands? Der Historiker Ulrich Lappenküper bezweifelt dies und übersieht dabei, dass es in der Politik um Interessen geht, nicht um Freundschaft.

Von Günter Müchler | 07.11.2011
    Nichts ist beredter als die Sprache der Bilder. Von Helmut Kohl und Francois Mitterand werden die verbundenen Hände von Verdun in Erinnerung bleiben, ebenso die Tränen des deutschen Kanzlers bei der Trauerfeier für den französischen Staatspräsidenten in der Kathedrale von Notre Dame. Beide Bilder scheinen Zeugnis abzulegen von Mitterand, dem großen Freund Deutschlands. Ulrich Lappenküper misstraut diesen Bildern. Sein Buch "Mitterand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx" arbeitet an der Entmythologisierung Mitterands, der Frankreich 14 Jahre lang regierte, als erster und bislang einziger sozialistischer Präsident der fünften Republik, und der für die deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen so wichtig war wie kein anderer, de Gaulle ausgenommen.

    In Frankreich selbst ist vom Mythos Mitterand schon lange nicht mehr viel übrig. Bei den Vorwahlen für die sozialistische Präsidentschaftskandidatur fielen die Beschwörungen seines Erbes eher matt aus. Die späte Entdeckung des Doppellebens, das Mitterand in politischer und in privater Hinsicht führte, als zeitweiliger Mitarbeiter des halbfaschistischen Vichy-Regimes und als Oberhaupt einer Parallelfamilie, macht die Berufung auf ihn für die Ehrgeizigen von heute zu einem gewagten Unterfangen. Bei Lappenküper findet Mitterrand keine Gnade. Er schildert den Ex-Präsidenten als großen Opportunisten, als eine Persönlichkeit von geradezu habitueller Zweideutigkeit. Das Unaufrichtige durchzieht als Grundmuster das ganze Buch. War Mitterand ein Sozialist? Der Autor bezweifelt es. War er ein entschiedener Europäer? Auch das ist für Lappenküper nicht ausgemacht. Kein Wunder also, wenn Mitterands vielgerühmte Freundschaft zu Deutschland der Prüfung des Autors nicht standhält. Besonders kritisch beurteilt Lappenküper Mitterands Verhalten in der Wiedervereinigungsphase.

    "Nein, Francois Mitterand, der sich so gern als Freund Deutschlands gerierte, hat die Wiedervereinigung nicht gewünscht."

    Was den Tatsachen entspricht. Mitterand versuchte zu bremsen, wo es ging. Sein Ost-Berlin-Besuch im Dezember 1989 war der vergebliche Versuch, ein diskreditiertes und bankrottes System zu stabilisieren. Seine Hoffnungen ruhten auf Gorbatschow. Lange konnte er sich nicht vorstellen, dass Gorbatschow den Weg zur Einheit freigeben würde.

    "Hätte Gorbatschow sich der deutschen Einheit entgegengestellt, wäre Mitterand wohl kaum für die Freiheit in die Bresche gesprungen."

    Mitterand sah in den Monaten nach dem Fall der Mauer schlecht aus. Wer das Unaufhaltsame aufzuhalten versucht, sieht immer schlecht aus. Seine Aktivitäten wirkten hilflos, teilweise bizarr. So, wenn er den Zwei-plus-Vier-Prozess hartnäckig "Vier-plus-Zwei" nannte. Die Dynamik der Ereignisse überrollte ihn. Er rechnete weder mit Helmut Kohls Zielstrebigkeit, noch mit Gorbatschows Realismus, auch nicht mit dem Einheitswillen der Ostdeutschen.

    Erst der überraschende Ausgang der freien Volkskammerwahl im März öffnete ihm die Augen. Von da an schickte er sich in das, was er nicht wünschte, nun aber für unvermeidlich hielt. Mitterand war nicht der einzige, der im Katarakt der Ereignisse die Übersicht verlor. Er war auch nicht der einzige, dem die Wiedervereinigung Deutschlands eine unbehagliche Vorstellung war. Man erinnert sich, dass selbst in der alten Bundesrepublik vielen der Status quo längst zur Heiligen Kuh geworden war und manchem der Ausdruck der Freude nach dem Mauerfall nicht so recht gelingen wollte. Hier gewichtet Lappenküper falsch. Er lässt nicht gelten, dass Mitterand, anders als Thatcher oder Andreotti, den Einigungsprozess nicht platt bekämpfte, sondern um seine Gestaltung bemüht war. Stattdessen urteilt er:

    "Durfte man von einem selbsternannten "Freund Deutschlands" nicht mehr erwarten?"

    Es ist die Schwäche des ansonsten empfehlenswerten, materialreichen und gut lesbaren Buches, dass sich der Autor allzu sehr auf die Freundschaftsfloskel fixiert. Mitterand handelte 1989 so, wie er glaubte, dass er als französischer Präsident handeln müsse. Übrigens nicht nur 1989: Als sich Mitterand im Januar 1983 im Bundestag für die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa aussprach, weil er andernfalls eine Neutralisierung der Bundesrepublik fürchtete, brachte er die befreundeten deutschen Sozialdemokraten aus der Fassung. Dagegen stärkte er Helmut Kohl den Rücken. Kohl hat ihm das nie vergessen. Er war in vielem mit dem französischen Staatschef einig und hatte ebenso viele Meinungsverschiedenheiten mit ihm. Über allem blieb ihm stets bewusst, dass es in den Staatenbeziehungen vorrangig um Interessen geht, nicht um Freundschaft. Seine Tränen in Notre Dame waren echt.

    Ulrich Lappenküper: "Mitterand und Deutschland – Die enträtselte Sphinx"
    Oldenbourg Verlag, 385 Seiten, Euro 49,80
    ISBN 978-3-486-70511-9