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Entseeltes Tingeltangel

In Goethes Trauerspiel aus frühen Sturm-und-Drang-Zeiten "Clavigo" geht es um Wortbruch. Um seine Karriere zu fördern, kündigt Clavigo das Eheversprechen mit der mittel- und einflusslosen Marie auf. Auch David Bösch, Regisseur des "Clavio" am Hamburger Thalia Theater, macht im Text einiges ungültig, kürzt ordentlich ein und hat mit seiner Theaterarbeit bisher ebenso ordentlich Karriere gemacht.

Von Michael Laages |
    Vom amerikanischen Dramatiker Edward Albee ist der angenehm fundamentale Satz überliefert, dass ein Theatertext, der sich in fünf Sätzen zusammenfassen lässt, auch bitte auf der Bühne nicht länger dauern sollte als eben diese fünf Sätze. Natürlich war das ein Plädoyer für das Unerklärliche, das eben nicht in fünf Sätzen Zusammenfassbare, ja das Un-Fassbare überhaupt, das erst Theater ausmache; wirklich wichtiges und wesentliches jedenfalls.

    Einige der jüngeren und ganz jungen Regisseurinnen und Regisseure, Hoffnungsträger immerhin der neuen Generation im alten Theater, erwecken derzeit den Eindruck, als hätten sie die Ironie von Albees Satz auf sehr groteske Weise missverstanden. "Clavigo" in der neuen Hamburger Fassung des rundum heftig gehypten Wunderkindes David Bösch ist ein nachgerade erschreckendes Beispiel für dieses Missverständnis.

    Clavigo, literarischer Jung-Star bei Hofe, und Carlos, Clavigos bester Freund, dieser am Cello, jener an der Schreibmaschine - so fängt das Stück an, das ein Pop-Song ist. Bestenfalls. Goethe kommt vom Kassetten-Recorder:

    Mit derart viel Ego steigt einer zwangsläufig auf, höher und höher, hinauf, hinauf ... und lässt so etwas wie Liebe eher beiläufig zurück.

    Und kaum abgelegt und im Herzen entsorgt, ist das arme Mädel schon Objekt der hippen Macho-Häme :

    Text, ziemlich original: Johann Wolfgang von Goethe; Musik: Karsten Riedel; und das Duo "Carlos & Clavigo" wird's damit schaffen bis in die Hitparade. Wie ein halbwegs sauber sortierter Studentenulk beginnt dieser Clavigo, die Helden, Hans Löw und Felix Knopp, bewähren sich als virtuose Comedy-Musikanten; dass hier allerdings bald gestorben wird, besser: gestorben würde, ist keinen Moment lang zu ahnen. Selbst Marie, die Verlassene, immer noch hübsch gehüllt ins liebliche Hochzeitsweiß mit nur ein paar roten Streifen dran vom versuchten Adernöffnen, nimmt das Elend eher musikalisch - als der chancenlose Verehrer Buenco ihr ein Akkordeon mitbringt. Sie setzt noch immer auf Clavigos "Love me tender":

    Auf diesen Missklang scheint bei Bösch das ganze triste Drama zusammen geschnurrt - kein Mordanschlag vom Herrn Buenco auf Clavigo, nur eine nicht geladene Pistole; ein Happy End, als Clavigo Marie wieder sieht; noch eins, allerdings für Carlos und Clavigo, als der sich wieder um entscheidet, gegen die Liebe, für die Karriere; ein letztes an Maries Sarg. Die steht allerdings noch traurig da - und schaut auf die schwarze Wand im Hintergrund, auf die die Männerfreunde vorher "Happy End" geschrieben haben. Jetzt läuft Theaterregen drüber - Schluss, aus, fertig. War da was?

    Das ist das Albee-Missverständnis. Ähnlich wie in den Arbeiten des Berliner Intendanz-Neulings Armin Petras, der einen ganzen schweren Ibsen in 90 Minuten schafft (wovon noch mindestens 20 für Schweigen, Video und Fremdtext draufgehen), ähnlich wie im allseits hoch geschätzten Kompress-Theater von Michael Thalheimer (der für jeden "Faust"-Teil und die ganze "Orestie" auch nur je zwei Stunden braucht), agiert auch Jung-Star Bösch aus dem Impuls des Zusammenfassens heraus. Wie brave Schüler teilen diese Regisseure dem Publikum zunächst und vor allem mit, das sie das Gerüst des Textes verstanden haben; und sie vermitteln diesen Kern dann in einer Haut-und-Knochen-Fassung. Was aber die (wenn der altmodische Begriff gestattet ist) "Seele" des Textes, und vielleicht der Dichtung und damit des Dichters ausmachen könnte, lauert zwischen diesen Knochen: Muskeln und Sehnen, Fleisch und Blut, Eingeweide, Ausscheidungen, ziemlich hässliche Dinge - das Un-Fassbare eben.

    Davon - das muss nach diesem Hamburger "Clavigo" unterstellt werden- weiß Bösch nichts, und davon, so scheint es, will er auch nichts wissen; und weil er's weder weiß noch wissen will, sollen auch wir's nicht erfahren. Er braucht für dieses zutiefst armselige Tingeltangel-Theater voller Gags und ohne jede Tiefe Virtuosen der Oberfläche; und die Thalia-Protagonisten, Löw und Knopp und selbst die an sich doch so herrliche Maren Eggert (die demnächst mit dem Ulrich-Wildgruber-Preis geehrt wird) liefern genau das: das Elend noch als Witz. Nur an den Rändern, von Sandra Flubachers Schwester Sophie und Jan Schüttes Buenco-Miniatur her, könnte vielleicht so etwas wie eine Interpretation beginnen - vom Kern her nicht.

    Und so, im Albee-Missverständnis, wirken selbst diese fünfviertel Stunden mächtig lang. Und es gereicht diesem Quickie - oder Shortie-Theater auch nicht zum Vorteil, das der Weg zum Theater und wieder zurück oft länger dauert als die Vorstellung selbst.