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Entstehung des Künstler-Image

Kunst kommt weniger vom Können als vielmehr vom Geschick der Vermarktung. Und so hängt alles ab von einer publikumswirksamen Selbstinszenierung als Künstler. Diesem Aspekt des Künstlertums hat sich Beatrice von Bismarck in ihrer Studie über artistische Selbstdarstellungen nach 1960 gewidmet.

Von Michael Wetzel | 29.12.2010

    Es ist ein bekanntes Phänomen, dass in Zeiten gesellschaftlicher Krisen das Bedürfnis nach Erlöserfiguren steigt. Dieses ursprünglich in religiösen Riten verankerte Begehren hat neben dem Charisma politischer Führergestalten in der Moderne auch den Bereich der künstlerischen Öffentlichkeit erreicht.

    In der Gegenwart erleben wir es vor allem auf der Ebene der Populärkulturen als eschatologische Erwartung. Die abstrus anmutende Ausrufung des neuen nationalen Teeniestars Lena Meyer-Landrut als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt ist eigentlich nur die logische Konsequenz aus den Karrieren amerikanischer Filmstars wie Reagan oder Schwarzenegger in der veritablen Politik ihres Landes.

    Nicht nur mit der Erwartung, sondern auch als symbolische Investition erben diese Verhältnisse aber Muster, die einmal für echte Künstler gegolten haben. Denn auch diese leben gerade nicht von ihrer Hände Arbeit allein, sondern von der Reputation ihres Rufes. Kunst kommt immer weniger vom Können als vielmehr vom Geschick der Vermarktung einer theatralen Kompetenz. Und so hängt eigentlich alles ab vom Auftritt als Künstler, also von einer publikumswirksamen Strategie der Selbstinszenierung als Künstler.

    Diesem Aspekt modernen oder auch postmodernen Künstlertums hat sich Beatrice von Bismarck in ihrer Studie zur Entwicklung artistischer Selbstdarstellungen nach 1960 gewidmet. Was an dieser Epochenschwelle nämlich auffällt, ist das zunehmende Eintreten der Künstlerfigur selbst in den Bereich des Werks. "Auftritt als Künstler", das meint auch das Auftreten der Künstler als Kunstwerke. Dabei können die unterschiedlichsten Rollenspiele inszeniert werden, in denen Künstler als Spurensicherer, Gesellschaftsreformer, Schamane, Eremit, Intellektuelle oder im klassischen Gewand des Genies, des Märtyrers, Propheten oder Heiligen auftreten. Neu an diesem öffentlichen Schauspiel ist die interaktive Einbindung aller Beteiligten, also auch der Zuschauer oder Betrachter, der Kuratoren, Museumsleiter, Kritiker, Galeristen, Theoretiker, die alle an der Entstehung des Künstler-Images mitwirken. Und dazu trägt natürlich auch der Einsatz der neuen audiovisuellen Medien bei, die mit an der Performanz - im doppelten Sinne von Leistung und Auftreten des Künstlers - arbeiten.

    Zwei Gesichtspunkte leiten Beatrice von Bismarck bei ihren Untersuchungen von so namhaften Beispielen wie Bruce Nauman, Dieter Roth , Gilbert & George, Vito Acconci, Daniel Buren oder Elke Krystufek: Nämlich die Entdeckung einer mythologischen Struktur der theatralischen Inszenierung und die Verschiebung des künstlerischen Schaffens auf die diskursive Funktion von Autorschaft.

    Beide Momente sind auch tragend für die Datierung der historischen Zäsur 1960 und verweisen auf denselben Theoretiker, nämlich Roland Barthes. Er hatte in seiner bahnbrechenden Studie zu den "Mythen des Alltags" von 1957 das strukturalistische Konzept einer Mythologie als semiologisches System entwickelt, das von Bismarck ihrer Analyse der Genese des neuen Künstlerbildes zugrunde legt. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es den Mythos nicht mehr als Gegensatz zu Rationalität begreift, sondern in ihm selbst typische diskursive Verschiebungen ausmacht. Ihre Grundtendenz ist ideologischer Natur und dient der Verschleierung sozialhistorischer Entstehungszusammenhänge als angebliche Naturgegebenheit. Und genau diesen Mechanismus nutzt die Künstlergeneration nach 1960, um das mit Hilfe von diskursiven Verfahren der Autorschaft erzeugte Image des Künstlertums in der Aura traditioneller Werte von Autonomie, Authentizität und Subjektivität erstrahlen zu lassen.

    Roland Barthes war allerdings auch derjenige, der den "Tod des Autors" ausgerufen hatte, also eine Entmythologisierung der sinnstiftenden Autorität gefordert hatte. Die Konsequenz hatte schon Walter Benjamin formuliert: Nicht nur das Kunstwerk, sondern auch der Künstler unterliegt den medialen Gesetzmäßigkeiten des Zeitalters seiner technischen Reproduzierbarkeit. Die Authentifizierung des kreativen Anteils am Werk durch die Persönlichkeit, ja die Körperlichkeit des Künstlers nimmt imitatorische und parodistische Züge gegenüber dem klassischen Geniekult von Außenseitertum und Wahnsinn an. Als Vorbilder zitiert von Bismarck Gauguin und Van Gogh. Die Wiederholungen der heroischen Gesten etwa durch Bruce Naumans "Selfportrait as a fountain" oder die Selbstdarstellung als "True Artist" ebenso wie die Dieter Roths als lebendiges Atelier oder die von Gilbert & George als lebendige "Singing Sculpture" – um nur einige Beispiele zu nennen -, suggerieren nur eine Restitution der seit der Renaissance fortlebenden Künstlerlegenden und vertiefen zugleich die Differenz.

    Insofern ist es zu kurz formuliert, wenn Beatrice von Bismarck schreibt:

    Künstler/innen übernehmen darin mehrfache Funktionen – Funktionen, die den Aufgaben der Helden in der antiken Mythologie ähneln: Stellvertretend für die übrige Menschheit befreien sie sich von Restriktionen, die ihnen durch Gesetze, Traditionen oder Normen auferlegt wurden.

    Nein, im 20. Jahrhundert ist das nicht mehr möglich – außer in der mythologischen Unterstellung von Geschichte als Natur. Schon für das 19. Jahrhundert hat Benjamin ein Ende der Heldenrolle diagnostiziert und dafür die Heraufkunft der Heldendarsteller prognostiziert. Sie können nur noch Helden spielen, so wie die von Bismarck analysierten Prototypen. Aber genau diese entscheidenden Differenz wird nicht benannt, weshalb die brisante Dialektik des "als" im Titel "Auftritt als Künstler", das heißt die eigentliche Philosophie des "als ob" im neuen Künstlertum nicht zum tragen kommt. Andererseits schwimmt das Buch auf der breiten Welle ubiquitärer Künstler-Revivals mit. Erst vor Kurzem widmete sich ein großes internationales Symposion in Wien der "Wiederkehr des Künstlers" und monographische Ausstellungen werden vom Publikum überrannt. Dass von Bismarcks Studie dieses Publikum aber erreicht, bleibt angesichts der Hochpreispolitik ihres Verlages allerdings zu bezweifeln.

    Beatrice von Bismarck: "Auftritt als Künstler – Funktionen eines Mythos". Verlag Walter König Köln 2010, 271 S, 48 Euro