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Entwarnung

Geophysik. - Der Vesuv gilt als Europas gefährlichster Vulkan - da er zu explosiven Ausbrüchen neigen soll. Im dichtbesiedelten Ballungsraum Neapel wäre eine solche Eruption eine Katastrophe mit vermutlich Hunderttausenden von Toten. Doch italienische Geophysiker geben jetzt Entwarnung. Der Vulkan ist nicht so unberechenbar wie gedacht.

Von Thomas Migge |
    Nun werden sie wohl auch weiterhin am Kraterrand wohnen dürfen. Seit Jahren errichten sich Neapolitaner Wohnhäuser am Kegel des Vesuvs. Das ist zwar verboten, hält aber niemanden davon ab, sich an den malerischen Hängen niederzulassen. Die illegalen Häuslebauer schlugen immer schon alle Warnungen vor einer katastrophalen Explosion des Vulkans in den Wind. Jetzt bekommen sie auch Unterstützung von den Geologen der Universität Neapel, erklärt der Geophysiker Carmine Adolfi:

    "Wir vom geophysikalischen Institut haben mit Geologen und Vulkanologen herausgefunden, dass der Vesuv höchstwahrscheinlich nicht, wie befürchtet, mit einer Explosion wie zuletzt 79 nach Christus ausbrechen wird. Im Gegenteil: Er stellt nicht mehr die Gefahr dar, von der alle Notpläne ausgehen, die in den letzten Jahren erstellt wurden."

    Das heisst nichts anderes, als dass die seit Jahren erwartete Katastrophe wahrscheinlich ausbleiben wird. Die Experten stützen ihre überraschenden Aussagen auf Messungen im Gebiet des Vesuvs. Geologische Messungen mit Hilfe von Lasersensoren. Wie Pflöcke sind sie im gesamten Gebiet des Vulkankegels im Erdreich installiert. Ihre Daten geben dem nationalen geologischen Institut in Neapel Informationen über die Höhenschwankungen der Ränder des Vulkanberges. Die Zahl leichter Erdbeben, Anzeichen für vulkanologische Aktivität, hat deutlich abgenommen. Zum Beispiel im Gebiet der Ruinenstadt Pompeji, wo es bis vor einigen Jahren immer wieder zu Beschädigungen kleinere Beben kam. Die Spitze und der zentrale Kegel des Berges hingegen fallen in sich zusammen - langsam aber sicher. Das Phänomen erinnert die Experten an einen schweren Stein, der auf weichem Untergrund immer tiefer sinkt. Die Messungen der neapolitanischen Geologen ergaben, dass das Absinken mit einer Geschwindigkeit von einem halben Zentimeter im Jahr vor sich geht. Carmine Adolfi:

    "Wir können mit exakten Datenlisten diesen Vorgang, der in der Fachsprache "spreading" genannt wird, nachweisen: die Ränder des Berges steigen, das Zentrum sinkt in sich zusammen. Das hat seinen Grund in den Gasen, die seit einigen Jahrzehnten verstärkt aus dem Erdreich aufsteigen, wodurch der vulkanische Innendruck absinkt und eine gefährliche Explosion immer unwahrscheinlicher wird."

    Bestätigt und ergänzt werden die Daten der Sensoren durch die Bilder zweier Satelliten der Esa - ERS-1 und ERS-2. Sie messen seit Jahren im Auftrag der Universität Neapel die Oberflächenstrukturen im Großraum Neapel mit einer Genauigkeit von bis zu einem Millimeter. Die von den Satelliten erstellten Bilder liefern genaue Daten über die Deformation des Vesuvs. Dazu der Vulkanologe Franco Blasio:

    "Das ist eine ungewöhnliche Sache und Sie müssen sich das wie ein Soufflé vorstellen: erst bläst es sich auf und dann fällt es in sich zusammen. Der in sich zusammenfallende Vesuv zeigt uns, dass seine vulkanische Tätigkeit seinem Ende entgegengeht."

    Eine Realität, die alle Notstandspläne auf den Kopf stellt. Noch im letzten Jahr wurde eine Massenevakuierung aus dem Gebiet des Vesuvs geprobt - die zu einem verheerenden Verkehrschaos führte. Jetzt hingegen plädieren Geologen und Vulkanologen dafür, dass sich die Behörden und der Zivilschutz lediglich auf Lavaströme einstellen müssen - ähnlich wie im Fall des sizilianischen Ätna. Auch der droht nicht zu explodieren, aber seine Lavaströme führen immer dann zu Zerstörungen, wenn sie nicht durch gezielte Sprengungen umgeleitet werden.