Archiv


Entziffert, entschlüsselt und entmachtet

Biologie.- Vor zehn Jahren wurde die Reihenfolge der genetischen Buchstaben im Erbgut des Menschen veröffentlicht: Das Zeitalter der Genomik wurde begeistert begrüßt. Die Euphorie hat sich mittlerweile gelegt - und es ist schon von der Postgenomik die Rede.

Von Michael Lange |
    "Genom sei der Herr". So begrüßte die "Süddeutsche Zeitung" am 15. Februar 2001 das neue Zeitalter der Genom-Forschung. Und die Tageszeitung "Taz" verwies auf die große Überraschung bei der ersten Analyse des menschlichen Erbguts. Sie titelte: "Wir sind zwei Fruchtfliegen". Statt der erwarteten etwa 100.000 Gene, fand man nicht mehr als 30.000 dieser Einheiten der biologischen Vererbung. Später musste die Zahl der Gene sogar auf etwa 22.000 korrigiert werden, kaum mehr als bei einem Fadenwurm.

    Schnell wurde klar: Da Menschen komplexer aufgebaut sind als Fadenwürmer, musste es eine Ebene jenseits der Gene geben. Der Begriff "Gen" verlor an Bedeutung.

    "Ich würde sagen, dass das Gen in diesem Sinne, wie es charakteristisch war für das 20. Jahrhundert, dass es diese Rolle in der Biologie des 21. Jahrhunderts nicht mehr spielen wird."

    Für Hans-Jörg Rheinberger vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin ist die Ära des Genoms beendet. Das postgenomische Zeitalter hat begonnen. Das menschliche Erbgut ist nicht mehr das "Buch des Lebens", sondern nur noch eine biologische Datensammlung, eine Art Katalog. Jede biologische Zelle kann entscheiden, welche Erbanlagen aktiviert werden und welche nicht?

    "Was man aber eben gleichzeitig festgestellt hat, ist, dass diese Einheiten im Erbmaterial auf sehr unterschiedliche Weise umgesetzt werden können und dass diese Eins-zu-Eins-Relation, ein Gen auf einem Chromosomenabschnitt, ein Protein in der Zelle, offenbar in dieser vereinfachten Form nur die Ausnahme darstellt."

    So gibt es Gene, die mehrere Proteine hervorbringen können. Andere müssen sich zusammen tun, um ein Protein zu erzeugen. Dieses komplexe Zusammenspiel lässt sich nicht entschlüsseln, wenn man nur die DNA-Buchstaben im Erbgut entziffert, so der Biologe und Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger.

    "Da wird erst einmal abgeschrieben, also von einer DNA in eine Ribonukleinsäure umgeschrieben. Die nennt man Boten-RNS, und diese Boten-RNS kann dann in der Zelle in unterschiedliche Stücke zerlegt werden, und dann können Teile davon wieder unterschiedlich zusammengesetzt werden. Und wenn die jetzt in Eiweiße umgesetzt werden, dann können ganz unterschiedliche Eiweiße entstehen."

    Je genauer die Forscher das Erbgut des Menschen untersuchten, umso mehr verblasste der Mythos vom Genom als herrschende Instanz über das Leben, und umso wichtiger wurde die Wissenschaft von der Steuerung des Genoms: die Epigenetik, erklärt der Humangenetiker Klaus Zerres von der Universitätsklinik Aachen.

    "Durch die Epigenetik lernen wir plötzlich einen zusätzlichen Faktor kennen, der einen entscheidenden Einfluss hat: Die Umwelt einerseits: Was esse ich? Was tue ich? Was tue ich nicht? Das Genom selbst, und dazwischen gewissermaßen die Epigenetik, die ein Vermittler ist zwischen den Genen und der Umwelt, und uns Menschen dann entscheidend prägt."

    Für das Genom blieb nur die Aufgabe der biologischen Vererbung. Aber auch dieses Alleinstellungsmerkmal wackelt. Möglicherweise können sogar Umwelteinflüsse über die Epigenetik vererbt werden.

    "Wir lernen jetzt, dass dieses Einschalten bestimmter Genfunktionen auch an die Enkel und Urenkel weitergegeben werden kann, in einem begrenzten Ausmaß. Dafür gibt es mittlerweile konkrete Hinweise."

    In der Medizin wird die Genom-Forschung in den nächsten Jahren vermehrt Anwendung finden: Zum Beispiel in der Krebstherapie. In der Grundlagenforschung jedoch ist die große Zeit der Erbgutentzifferung bereits Geschichte. Die Genomdaten sind heute ein Hilfsmittel für weitergehende Forschung, mehr nicht.


    Links zum Thema:

    Reihe "Ich Mensch Genom" bei "Forschung aktuell"

    "Genom digital" (Wissenschaft im Brennpunkt)"

    "Genom als Fremdsprache" (Wissenschaft im Brennpunkt)"