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Enzo Traverso: Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoa

An nichts .... kann ich mich halten als an das in seiner Qualität unmittelbare Erlebnis. Ich sehe, wenn das Land Israel, das für mich kein heiliges ist, bedroht wird, Flammen allüberall. Und ich rufe: Feuer! Ich weiß, mein Schrei verhallt ungehört, Jene, die ein Judentum haben, sprechen mir das Recht ab, mich vernehmen zu lassen, worin sie konsequent sind. Die anderen, die niemals die Drohung als eine persönliche, physische erfuhren, hören sowieso nicht hin. Ich kann sie nicht verurteilen, da ich selber nicht täglich an die Armenier-Massaker durch die Türken denke. Die Leute reden über Politik und Geschichte, objektive Vorgänge. Ich bleibe fixiert, bis zum bittersten Ende, an das Erlebnis. Stünde ich im Besitz eines Judentums, ich könnte das subjektiv Erlebte hurtig zu objektiver, finalistischer Geschichtlichkeit machen. Der Weg ist mir verstellt. Vier Wände rücken zusammen, der Raum wird enger. Das Judesein (das ich nicht gewählt habe) ohne ein Judentum (das zu küren Abkunft und Umwelt ich mir nur um den Preis der Lebenslüge gestatten dürfte) mündet ein in eine meine Existenz begleitende, von Fachleuten wahrscheinlich als ‘neurotisch’ zu bezeichnende, von mir als einzig mir zustehende Gemütslage alle Tage durchzulebende Melancholie.

Khosrow Nosratian |
    An nichts .... kann ich mich halten als an das in seiner Qualität unmittelbare Erlebnis. Ich sehe, wenn das Land Israel, das für mich kein heiliges ist, bedroht wird, Flammen allüberall. Und ich rufe: Feuer! Ich weiß, mein Schrei verhallt ungehört, Jene, die ein Judentum haben, sprechen mir das Recht ab, mich vernehmen zu lassen, worin sie konsequent sind. Die anderen, die niemals die Drohung als eine persönliche, physische erfuhren, hören sowieso nicht hin. Ich kann sie nicht verurteilen, da ich selber nicht täglich an die Armenier-Massaker durch die Türken denke. Die Leute reden über Politik und Geschichte, objektive Vorgänge. Ich bleibe fixiert, bis zum bittersten Ende, an das Erlebnis. Stünde ich im Besitz eines Judentums, ich könnte das subjektiv Erlebte hurtig zu objektiver, finalistischer Geschichtlichkeit machen. Der Weg ist mir verstellt. Vier Wände rücken zusammen, der Raum wird enger. Das Judesein (das ich nicht gewählt habe) ohne ein Judentum (das zu küren Abkunft und Umwelt ich mir nur um den Preis der Lebenslüge gestatten dürfte) mündet ein in eine meine Existenz begleitende, von Fachleuten wahrscheinlich als ‘neurotisch’ zu bezeichnende, von mir als einzig mir zustehende Gemütslage alle Tage durchzulebende Melancholie.

    Das Erlebnis, von dem Jean Améry hier schreibt, ist das deutsche Vernichtungslager. 1912 in Wien geboren, vom antijüdischen Rassismus zum Juden gemacht und dann deportiert, hat Améry den Massenmord überlebt. Er zählt zu den europäischen Intellektuellen, für die Erlebnis und Erfahrung nationalsozialistischer Barbarei ins Zentrum ihres Denkens rückte. Die Auswirkungen des Menschheitsverbrechens, das mit dem hebräischen Wort Shoá bezeichnet wird, auf die Intellektuellen der Generation von Améry untersucht ein Buch von Enzo Traverso, das gerade in der hamburger edition herausgekommen ist: Auschwitz denken heißt es und Khosrow Nósratian hat es für uns gelesen:

    Enzo Traverso, ein in Frankreich lebender Politikwissenschaftler italienischer Herkunft, hat eine denkwürdige Studie zum Thema Auschwitz vorgelegt. Sie atmet den Geist der Kritischen Theorie. Er stellt den Genozid am europäischen Judentum in den Stammbegriffen einer Dialektik der Aufklärung dar. Das Verhältnis von Modernität und Barbarei bildet den Horizont seiner Fragestellung. Er treibt sie mit Elan voran, indem er die Kraft eines integralen Humanismus mit der Figur einer moralischen Geschichtsauffassung verknüpft.

    In einer systematischen Zusammenschau beschreibt er Lebensläufe der deutsch-jüdischen Intelligenz, die mit der Erfahrung von Auschwitz konfrontiert war. Der Schock traf die Intellektuellen mit voller Wucht. Er sprengte sie in Mentalität und Moral aus allen vertrauten Milieus. Plötzlich waren sie traumatisiert, entwurzelt, staatenlos. Die marginalisierte Minderheit, dem Massaker entronnen, mußte im Exil eine neue Heimat finden. Diese Zäsur erkundet der Autor in detaillierten Teilstudien zu Hannah Arendt, Walter Benjamin, Günter Anders, Theodor Adorno und anderen. Dabei betont er den Nonkonformismus, die geistige Offenheit und die existentielle Unruhe dieses Paria-Judentums.

    Traversos "Lehrstücke zur Genealogie des Schreckens" können als kulturwissenschaftliche Traumaforschung in politischer Absicht gelten. Sie zeichnen die Physiognomie der vogelfreien Intelligenz wie eine allegorische Darstellung Michelangelos. Der Autor bezieht sich dabei auf eine Interpretation des Historikers Detlev Peukert.

    "In Michelangelos 'Giudizio universale' findet sich die merkwürdige Figur eines Verdammten, der, obwohl an den Beinen bereits zur Hölle hin gezerrt, in der klassischen abendländischen Denkerpose verharrt: das Gesicht auf den gebeugten Arm gestützt, das eine Auge zwar mit der Hand verdeckt, das andere jedoch, schreckgeweitet -, offen zur umfassenden, überscharfen Beobachtung. Er sieht uns an und bezeugt zugleich die Apokalypse."

    Der Zivilisationsbruch durch Auschwitz hat die klassische Denkerpose zermalmt. In einer modernen Gesellschaft, dem neuzeitlichen System von Radio und Technik verschrieben, tauchte die Lagerhölle der Nazis wie ein monströser Fremdkörper auf. Die zeitkritisch geschärfte Geistesgegenwart mußte sich auf die Wahrnehmung des neuen Höllenbildes focussieren. So hat Max Horkheimer den Faschismus als "eine satanische Synthese von Vernunft und Natur" bestimmt. Auschwitz war ein Inferno. Das berührt den geschichtlichen Glutkern jedes verfolgten 'Gemeinschaftsfremden' bis heute.

    Enzo Traverso versucht, den "geheimen Code" dieser "infernalischen Ordnung" zu entziffern. Ihm zufolge entwickelten die jüdischen Emigranten den neuen Reaktionstyp der säkularisierten Höllenkunde. Sie war keine bloß theologische Reminiszenz, sondern ein handfestes Forschungsergebnis. In einem berühmt gewordenen Gespräch mit Günter Gaus hat Hannah Arendt ihre Reaktion auf das Ereignis Auschwitz beschrieben.

    "Das war 1943. Und erst haben wir es nicht geglaubt. Obwohl mein Mann und ich eigentlich immer sagten, wir trauen der Bande alles zu. (...) Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet."

    Die Texte von Hannah Arendt und Walter Benjamin bilden den Grundstock der Untersuchung, die den Riss im Kulturgefüge Europas vermessen will. Arendts Begriff des Totalitarismus erlaubt es, das 20. Jahrhundert im Ausgang von der Welt des Konzentrationslagers zu deuten. Benjamins Entwurf zu einer Theorie der Geschichte setzt an die Stelle des Fortschritts die Antizipation der Katastrophe. Auch nicht-jüdische Autoren werden vorgestellt: Jean-Paul Sartres philosophische Reflexionen zum Antisemitismus sowie die zeitgeschichtlich bedeutsamen Stellungnahmen des amerikanischen Journalisten Dwight Macdonald. Frühzeitig erkannte er die Nazis als "psychopathologische Killer", ihre Ideologie als "paranoiden Haß", die Massenausrottung in den Vernichtungslagern als effektive Mordlust.

    Den Denkern treten Dichter zur Seite, denen Traverso ganze Kapitel widmet. So wird der politische Gehalt in Paul Celans 'Dichtung der Zerstörung' umrissen. Claudio Magris, den Traverso zitiert, hat sie sehr genau charakterisiert.

    "Die Lyrik Celans ist bis zum Äußersten orphische Dichtung, ein Gesang, der in die Nacht, ins Reich der Toten hinabsteigt, der sich mit dem ununterscheidbaren Gemurmel des Lebens vermischt und jede sprachliche und gesellschaftliche Form zerbricht, um das magische und geheime Wort zu finden, welches das Gefängnis der Geschichte öffnen könnte."

    Ein gelungenes Doppelportrait von Jean Améry und Primo Levi folgt. Traverso versteht beide Schriftsteller als überzeugte Vertreter eines "humanistischen Rationalismus". Auschwitz hat sie, ihrem Zeugnis nach, erst zu Juden gemacht. Die Qualität ihrer Augenzeugenberichte entwickelte die Autobiographie zum Muster einer analytischen Geschichtsschreibung. Traverso erläutert:

    "Die Erinnerung ist ihr Thema, das Gedächtnis aber ist ihr Ziel".

    Als skeptische Intellektuelle trafen sie auf den "entmenschten Menschen", der in einer "luziden Kombination von technischer Erfindungsgabe, Fanatismus und Grausamkeit" (S. 257) den staatlich legitimierten Massenmord geradezu zelebrierte. Ihr Zeugnis von der Besudelung durch das Böse bezeichnet streng die extremen Pole der Reaktion auf Auschwitz: Primo Levi tendierte zur sanftmütigen Klage, Jean Améry zum rachsüchtigen Zorn.

    Jean Améry hat die Idee einer 'Moralisierung der Geschichte' verfochten und ihr folgt der Autor in seinem in der 'Hamburger Edition' erschienenen Buch. Es schließt mit einer Empfehlung, die der Denker des 'Prinzips Hoffnung' ausgesprochen hat.

    "Über Auschwitz nachdenken heißt: versuchen zu verstehen - der Arroganz und den Aporien der Vernunft zum Trotz, abseits der offiziellen Gedenkfeiern und jenseits der dogmatischen Verbote. Es heißt, 'die Geschichte zu moralisieren', damit die Besiegten nicht vergessen werden und die Menschheit schließlich, mit Ernst Bloch zu sprechen, 'den aufrechten Gang' lernt."

    Khosrow Nósratian besprach ‘Auschwitz denken; Die Intellektuellen und die Shoá’. Autor des in der hamburger edition erschienen Bandes ist Enzo Traverso. Das Buch hat 360 Seiten und kostet 58 DM.