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Enzyklopädie der Naziverbrechen in Italien

Von Tora und Piccilli aus geht der Blick in ein grünes Tal, das noch nicht von einer Autobahn zerstört worden ist. Es wird das "Tal des Schicksals" genannt. Nicht erst seit 1943. Schon vor diesem Datum ging es in dem großen Tal zwischen dem Klosterberg Cassino und der Stadt Capua blutig und grausam zu. Hier richteten der Heerführer Hannibal und die Goten Blutbäder an. Hier besiegten die Piemontesen vor der italienischen Staatseinigung in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die Bourbonen. Capua wurde im Laufe seiner langen Geschichte mehrfach dem Erdboden gleichgemacht. Das letzte Mal 1943. Ein stundenlanger Bombenhagel hinterließ nicht nur Ruinen, sondern auch über 1.000 Tote. In jenem Jahr wurde das "Tal des Schicksals" zum Niemandsland. Zwei Monate lang wüteten hier die deutschen Besatzer. Eine Zeit, so der römische Historiker Rosario Villari, an die sich noch heute niemand gern erinnert:

Ein Beitrag von Thomas Migge |
    Diese Menschen dort, die in diesem großen Tal lebten, befanden sich plötzlich in den Händen von Soldaten, für die sie Feinde geworden waren. 1943 wurde Mussolini abgesetzt und gefangen genommen. Eine neue Regierung überbrachte den alliierten Kräften die italienische Kapitulation. Wo sich die Deutschen befanden wurde das italienische Territorium von ihnen besetzt und die Italiener allesamt Kriegsgegner. Sie respektierten die Italiener nicht mehr wie das vorher der Fall war.

    Es kam zu schlimmen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung. Grausamkeiten, die in ihrem gesamten Ausmaß bisher noch nicht bekannt und schon gar nicht erforscht waren. Mit dem Erscheinen des ersten Bandes einer Buchreihe, die den bezeichnenden Titel "Terra bruciata", verbrannte Erde, trägt, soll diese historische Forschungslücke nun geschlossen werden. Der erste Band beschäftigt sich mit der Region Kampanien und dem südlichen Latium. Die folgenden Bände liefern Informationen über das deutschem Vorgehen in der Toskana und in der Region Emilia-Romagna.

    Es handelt sich um die erste systematische Aufreihung deutscher Kriegsverbrechen in Italien. Autorin ist die Historikerin Gabriella Gribaudi von der Universität Neapel. Sie hat zusammen mit Kollegen in italienischen und US-amerikanischen Archive geforscht und mit Hunderten von Überlebenden gesprochen. Das Resultat dieser Sisyphusarbeit ist jetzt im Verlag Ancora del Meditteraneo erschienen. 464 Seiten dick. 464 Seiten mit den Beschreibungen von Hunderten von Anschlägen auf eine, so Rosario Villari, den Deutschen ausgelieferte Zivilbevölkerung:

    Nach dieser schrecklichen Zeit wurde über diese Vorfälle nur noch selten gesprochen. Unterlagen zu dem Morden deutscher Soldaten wurden bewusst von den Regierenden aus dem Verkehr gezogen. Italiens Nachkriegspolitiker wollten die endlich wieder guten Beziehungen zu Deutschland nicht trüben. Der neue europäische Geist sollte nicht mit diesen Grausamkeiten belastet werden.

    Grausamkeiten, die die Soldaten während ihrer Rückzugsgefechte in den Norden anrichteten. Zum Beispiel in Castellamare di Stabia: die Autorin des Buches fand Dokumente, die nachweisen, dass 627 antifaschistische Bürger in deutsche Vernichtungslager deportiert wurden. In der Regel aber kam es nicht zur Deportation. Die Soldaten gingen vor Ort gegen die Menschen vor. Vor allem in den Ortschaften um Neapel. In Marano, Orta di Atella, in Giugliano und anderswo reagierten die Besatzer auf jeden antideutschen Protest und jede als antideutsch verstandene Äußerung mit Massenerschießungen. Fast immer waren es, so weist die Studie nach, gleich zehn oder zwanzig oder noch mehr Italiener, die ohne einen Prozess erschossen wurden. Ein Beispiel für viele: in dem Dorf Bellona bei Caserta, nördlich von Neapel, wollte ein deutscher Soldat eine Einheimische vergewaltigen. Die Verwandten wehrten sich und töteten den Soldaten. Die Folge dieser Tat: 56 Bürger wurden erschossen. Der Autorin der drei Bände zu den deutschen Kriegsverbrechen in Italien geht es nicht um das Schüren antideutscher Gefühle oder darum, die noch lebenden Verantwortlichen aufzuspüren.

    Wir können heute diese Vorfälle aufgreifen, über sie sprechen, ohne irgendwelche Rachegelüste zu hegen. Zuviel Zeit ist verstrichen und die Beziehungen zu den Deutschen sind ausgezeichnet. Aber es geht um eine Aufarbeitung. Die Historikerin aus Neapel zeigt uns das ganze Ausmaß deutscher Repressalien, ein Ausmaß, dass endlich, nach über 50 Jahren, zum Thema von Diskussionen werden kann.

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