Wie wenig gerechtfertigt diese Einschätzung ist, zeigt ein opulenter Bildband, der schon bei Erscheinen der italienischen Originalausgabe vor sieben Jahren für Aufsehen sorgte und jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt. Der hohe Anspruch, den der italienische Architekt Riccardo Montenegro mit seiner "Enzyklopädie der Wohnkultur" vertritt, wird schon im Vorwort klar formuliert: "Es steht zu erwarten, daß sich die Architekturgeschichte (...) von jenem (...) Konzept lösen wird, das sie bisher in die Kunstgeschichte einbindet und sie Großartiges vollbringen ließ. Zugleich aber hat dieses Konzept ihr den historischen Schritt erschwert, sich auf einem anderen Fundament neu zu erschaffen: als Geschichte der Wohnkultur, Geschichte der unablässigen Verwandlung unseres Planeten, die der Mensch in beinahe zwei Jahrtausenden bewirkt hat."
Nicht als Teil der Kunstgeschichte, sondern als integralen Bestandteil der Architekturgeschichte will der Architekt Montenegro die Auseinandersetzung mit der Wohnkultur künftig verstanden wissen - als eine Art von ganzheitlicher Befassung mit jenen Einrichtungsgegenständen, die seiner Einschätzung nach das beredtste Zeugnis vergangener Epochen ablegen: "Wenn diese Trennung von der Geschichte der Malerei und der Skulptur erfolgt, wird zum Ausgleich eine neue Verbindung entstehen, die im übrigen höchst opportun ist. Eine Verbindung mit der Geschichte der Stadt, der Geschichte der Landschaft und der Geschichte dessen, was wir heute als "Einrichtung" bezeichnen und was nichts anderes ist, als ein unmittelbarer Ausdruck des Wohngefühls."
Was der deutsche Verlag als eine "Enzyklopädie" verkauft, als systematische Darstellung eines klar umrissenen Wissensgebietes also, ist tatsächlich nicht weniger als der Versuch der völligen Neubewertung wesentlicher Teile der europäischen Designgeschichte - jener Bereiche nämlich, die sich auf das tägliche private Lebensumfeld der Menschen beziehen, der sogenannten "Wohnkultur" also. Dabei macht es durchaus Sinn, den kukurgeschichtlichen Forderungen Montenegros zu entsprechen. Tatsächlich ist kaum einzusehen, warum Möbel und Lampen, Geschirr und Tapisserien in den meisten Darstellungen zum Thema Wohnen erster Linie als isolierte Designobjekte begriffen und durch diese Überhöhung entfunktionalisiert werden.
Nach wie vor hat ein Stuhl in erster Linie die Aufgabe, dem Menschen als Sitzplatz zu dienen, die Wirbelsäule unterstützend zu entlasten und sitzende Tätigkeiten zu ermöglichen. Erst in zweiter Linie ist er auch ein gestaltetes Objekt, an dessen Details sich die Phantasie seines Schöpfers austoben kann.
Riccardo Montenegro bemüht sich nun, den Gegenständen des täglichen Lebens den Konext ihrer Entstehung zurückzugeben. In elf Kapiteln untersucht er den Zeitgeschmack zwischen Antike und Moderne mit Hilfe ausführlich dargestellter lnterieurs der jeweiligen Epoche: "Die Einrichtung hinterläßt in unserem Zuhause Spuren unseres Lebens und vermittelt jenen, die sie später benutzen, eine Ahnung von unserer ‘verlorenen Zeit’. Daher müssen wir verstehen lernen, was sie uns jeweils sagt. Dies gelingt uns nur, indem wir uns ihre Geschichte erschließen und anhand wiederkehrender Formen und Typen eine Verbindung zur Kultur und zum Lebensstil der jeweiligen Epoche herstellen."
Elf Kapitel umfaßt der Parcours, den Montenegro auf den knapp 300 Seiten seines Buches aufgebaut hat. In einem kulturgeschichtlichen Parforceritt von der Antike über Mittelalter und Renaissance, Barock, Rokkoko und Empire führen seine Betrachtungen schließlich zum Historismus und zum Beginn des modernen Designs um 1900. Montenegro untersucht für jede dieser Epochen bis hin zur Postmoderne des Jahres 1998, wie weit der Zeitgeschmack und die individuellen Bedürfnisse der Menschen die Einrichtung ihrer Wohnungen und die Gestaltung von Möbeln und Gebrauchsgegenständen beeinflußt haben. Er stellt dafür die wesentlichen kultur- und architekturhistorischen Neuerungen der jeweiligen Zeit in den Zusammenhang der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen - für das "Grand Siecle" zum Beispiel, die Blütezeit der Manufakturen im Frankreich des Sonnenkönigs Louis XIV: "Die Auswanderung zahlreicher Dekorateure und Kunsthandwerker - viele Italiener und Deutsche gingen nach Frankreich, nach England zog es hauptsächlich Niederländer - begünstigte die Ausbreitung neuer Konstruktions-, Furnier- und Einlegetechniken und damit letztlich eine Belebung der Produktion. Der Zeitgeschmack änderte sich, und mit ihm die Möbelformen. Neue Märkte taten sich auf. (...) Nach dem Vorbild von Florenz schuf Ludwig XIV königliche Manufakturen, deren Möbelproduktion für seine Residenzen er streng überwachte. Von diesen Werkstätten gingen entscheidende neue Impulse aus, die dem Metier des Möbelbauers und Kunsttischlers nach wiederholtem Auf und Ab im 18. Jahrhundert zu einer Hochblüte verhelfen sollten."
Ergänzt werden diese auch umfassend belegten Informationen durch Sonderseiten zu jedem Kapitel. Auf ihnen stellt Riccardo Montenegro die jeweils wichtigsten Entwerfer und Möbelbauer einer Epoche in Kurzbiographien vor. Unzählige Möbelfotografien, kommentierte Grundrißzeichnungen exemplarischer Gebäude und zeitgenössische lnterieurdarstellungen ergänzen die einzelnen Abschnitte.
Entstanden ist auf diese Weise eine so umfangreiche wie sorgfältige Kulturgeschichte des privaten Geschmacks vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen - nicht aber tatsächlich eine Enzyklopädie der Wohnkultur. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hätte es sorgfätigerer Analysen jener Hintergründe bedurft, die sozialgeschichtlich von Bedeutung waren. Montenegros Leser erfährt wenig darüber, wer sich eigentlich ab wann überhaupt Möbel leisten konnte, welche Bauweisen das Anbringen von Tapeten überhaupt zuließen oder wie technische Neuerungen - etwa der Einsatz von Wassertoiletten - auch neue Einrichtungsaufgaben mit sich brachten. Der Autor leistet aber statt dessen eine ausgezeichnete Einbindung der Innenarchitektur in die Geschichte der allgemeinen Gebäudeentwicklung; er weist überzeugend nach, wie das äußere Sein der Bauten das Bewußtsein ihrer Bewohner für die Gestaltung des umbauten lnnenraurnes bestimmte.
Riccardo Montenegro ist es gelungen, die Geschichte der Wohnkultur aus der sie isolierenden Vereinnahmung durch die Kunst- und vor allem durch die Designgeschichte zu befreien. Sie statt dessen allein an die Architekturgeschlchte anzubinden, wird dem Thema aber auch nicht gerecht. Wie das Thema Wohnkultur in allen sie betreffenden Bereichen bearbeitet werden sollte, zeigt die auf fünf Teile angelegte ambitionierte Reihe "Geschichte des Wohnens", von der die Deutsche Verlags-Anstalt bereits drei Bände vorgelegt hat. Montenegros "Enzyklopädie der Wohnkultur" kann dieses leider schlecht illustrierte DVA-Projekt als umfang- und kenntnisreich kommentierter Bildteil ergänzen.