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Epigenetik

Als 1990 das Human Genome Project ins Leben gerufen wurde, flogen die Erwartungen himmelhoch. Man hoffte, durch die schlichte Entschlüsselung des menschlichen Erbguts Krankheiten wie Diabetes, Multiple Sklerose, Parkinson oder Alzheimer heilen zu können, durch eine "schlichte Gentherapie", bei der Krankes ersetzt würde wie ein defekter Motor in einem Auto.

Von Dagmar Röhrlich | 18.10.2009
    Im Jahr 2000 wurde auf einer medienwirksamen Pressekonferenz in Anwesenheit des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton und einem über Satellit zugeschalteten Tony Blair die "zweifellos wichtigste, wundervollste Karte, die je von Menschen erschaffen wurde" vorgestellt - so verkündete es damals die beiden harten Konkurrenten im Sequenziergeschäft Francis Collins der Chef der Human Genome Organisation und Craig Venter von Celera Genomics: Nicht weniger als ein neues Zeitalter der Biologie sollte anbrechen, ein biologisches Jahrtausend.

    Neun Jahre später sind die vollmundigen Statements Vergangenheit: Die Revolution wurde abgesagt, weil inzwischen klar ist, dass das Genom, das "Buch des Lebens", viel rätselhafter ist als damals - wohl naiverweise - angenommen. Nur ein einfaches Beispiel: In jeder unserer Körperzellen steckt das gleiche Erbgut, und doch ist eine Nervenzelle eine Nervenzelle, eine Knochenzelle eine Knochenzelle und eine Muskelzelle eine Muskelzelle. Bei der Frage, wie sie sich differenzieren, kommt ein neues Zauberwort ins Spiel: Epigenetik - der schnell aufgehende Star unter den Forschungsgebieten.

    Die Epigenetik erforscht die Strukturen, die jeder einzelnen Zelle ihre Identität verleihen, und die alle zusammen das Epigenom bilden. Mit seiner Hilfe "weiß" eine Zelle nicht nur, dass sie eine Nervenzelle ist und was sie zu tun hat, die Epigenetik schafft auch eine Schnittstelle zwischen Genen, Umwelt und Psyche. Von der Zeugung bis zur Bahre ist sie der Hebel, mit dem Umwelt oder Psyche die Aktivität der Gene beeinflussen und es dem Körper so erlauben, sich anzupassen.

    Es sind Zusammenhänge wie diese, die den Naturwissenschaftler und Romanautor Bernhard Kegel faszinieren und über die er sein Buch geschrieben hat. Und er beginnt mit Överkalix, einem abgelegenen schwedischen Dorf. Dort gibt die Dorfchronik Auskunft über so ziemlich alles, was in den vergangenen 200 Jahren passiert ist, und bei der statistischen Auswertung stellte sich heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen der Ernährung der Großelterngeneration und der Lebenserwartung der Enkel geben könnte. Allerdings stand diese Statistik aufgrund der Zahl der Betroffenen auf eher tönernen Füßen.

    Bernhard Kegel legt in seinem Buch die Prinzipien der Epigenetik mit Leidenschaft dar, denn er ist davon überzeugt, dass sie die Biowissenschaften revolutionieren wird - und das möchte er gerne vorantreiben. Und um eine Revolution geht es wirklich: Sollten sich die Hinweise bestätigen, gerät die klassische Vererbungslehre ins Wanken. Diese Leidenschaft ist es auch, die ein "Aber" in die Kritik bringen - denn der Autor deutet die Schwachpunkte der Theorie nur an. Und davon gibt einige, etwa der, dass eine über viele Generationen dauerhafte Vererbung solcher erworbenen Eigenschaften bisher nicht dokumentiert worden ist. Oder der, dass nicht klar ist, wie die Weitergabe der erworbenen Informationen molekularbiologisch funktioniert.

    Sofern dem Leser jedoch bewusst bleibt, dass es dem Autor darum geht, eine "Theorie für das nächste Jahrtausend" bekannt zu machen, bietet das leicht verständlich und flüssig geschriebene Buch einen sehr guten Einstieg in das Thema Epigenetik. Und die ist auf jeden Fall ein Thema, das uns in den kommenden Jahren begleiten wird, denn es ist ein sehr wichtiges Forschungsgebiet.

    Bernhard Kegel: Epigenetik: Wie Erfahrungen vererbt werden können
    ISBN: 978-3-8321-9528-1
    DuMont-Verlag, 367 Seiten, 19,95 Euro